Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
Abständen dazwischen. Es wartete. Es würde so lange warten, wie es mußte.
»Na schön, dann kannst du jetzt von mir aus durchgehen.« Die Gestalt hinter dem Schreibtisch deutete auf die offene Tür und das schreckliche Etwas dahinter. »Wenn du die Stelle gar nicht haben willst, hättest du nicht unsere kostbare Sprechzeit vergeuden sollen. Mit der Erweiterung und der Fusionierung haben wir im Moment alle Hände voll zu tun.«
Das heisere Schnaufen wurde lauter. Orlando wußte, daß er nie im Leben sehen wollte, wer dieses Geräusch machte.
»Ich hab’s mir anders überlegt«, sagte er hastig. »Tut mir leid. Ich will die Stelle. Geht’s dabei irgendwie um Mathematik?« Er wußte, daß er gute Noten hatte – das war es doch, was Erwachsene immer wollten, oder? Gute Noten? Er würde seine Mutter und seinen Vater um Erlaubnis fragen müssen, die Schule zu verlassen, aber wenn er ihnen von dem Ding im Nebenzimmer erzählte, würden sie bestimmt …
Die leuchtende Person stand auf. War das Ablehnung in den gestrafften Schultern, in dem kalten weißen Feuer des gesichtslosen Gesichts? Hatte er zu lange herumverhandelt?
»Komm und gib mir deine Hand«, sagte das Gegenüber.
Ohne zu wissen, wie es geschah, stand er auf einmal direkt vor dem Schreibtisch. Die Gestalt dort streckte eine Hand aus, die wie Phosphor brannte, aber ohne Hitze. Gleichzeitig fühlte er die kalte Luft aus dem blau erleuchteten Zimmer wehen, eine Luft, bei der seine Haut sich zusammenzog und seine Augen tränten. Orlando nahm die Hand.
»Du mußt daran denken, daß du dein Bestes gibst.« Als die Gestalt ihre Hand um seine schloß, fühlte er wieder Wärme in sich einströmen, und das so rasch, daß es beinahe schmerzhaft war. »Du hast gute Noten. Wir lassen es auf einen Versuch ankommen.«
»Vergiß Fredericks nicht«, erinnerte er sich plötzlich. »Ich hab ihn überredet mitzukommen – es ist nicht seine Schuld!«
Das Ding im Hinterzimmer machte ein gräßliches Geräusch, halb Bellen, halb feuchtes Schluchzen. Sein Schatten kam näher; er verdunkelte die Tür und legte sich über den Lichtwürfel, der das Büro war, verdunkelte sogar das Leuchten der Gestalt, die Orlandos Hand hielt. Orlando schrie entsetzt auf und wich zurück, und da fiel er wieder.
Fiel und fiel.
> Als die Abendsonne hinter dem Dunstschleier versank, der über Kalkutta lag, schien sie den ganzen Himmel zu entzünden. Ein orangerotes Glühen breitete sich am Horizont aus, geschmolzenes Licht, von dem die Silhouetten der Fabrikschornsteine rußig abstachen wie die Minarette der Hölle.
Es hat begonnen, dachte er. Sogar der Himmel spiegelt es wider. Der Tanz hat begonnen.
Der heilige Mann bückte sich und hob seine einzige Habe vom Sand auf, dann schritt er langsam zum Fluß hinunter, um sie zu waschen.
Auch mit dieser letzten Bindung an die Scheinwelt der Maya war er jetzt fertig, aber es gab Rituale, die eingehalten werden wollten. Er mußte aufhören, wie er angefangen hatte.
Er hockte sich in den braunen Fluß, einen Deltaarm des mächtigen Ganges, und ließ sich von den heiligen Fluten überspülen und von dem Unrat der Industrie- und Hausabwässer Kalkuttas, den sie mitführten. Seine Haut juckte und brannte, aber er machte nicht schneller. Er füllte die Schale und goß dann das Wasser wieder aus, scheuerte und kratzte mit seinen langen Fingern in allen Ritzen, bis die Schale im ersterbenden Sonnenlicht glänzte. Er hielt sie umgedreht vor sich, so daß die rauhe Kante auf seiner Handfläche lag, und erinnerte sich an den Tag, an dem er hierhergekommen war, um sich bereit zu machen; volle zwei Jahre war das jetzt her.
Niemand hatte ihn zur Rede gestellt, als er die Asche der Verbrennungsstätte durchwühlt hatte. Selbst in der modernen Indischen Föderation, wo neue elektronische Nerven pulsierend das Fleisch eines Volkes durchliefen, das so alt und welk war wie die Menschheit selbst, bestand der abergläubische Respekt vor dem Aghori fort. Die Leichenstätten, zu denen er und ein paar andere Verehrer des Zerstörers Schiva noch pilgerten, um sich auf der Suche nach Reinheit im Schmutz und Aas der Welt zu suhlen, wurden ihnen, den Unberührbarsten der Unberührbaren, bereitwillig überlassen. Wer noch glaubte, sah es gern, wenn die alten Bräuche nicht völlig ausstarben. Andere, die früher einmal geglaubt hatten, wandten sich mit schuldbewußtem Schauder ab. Und wer gar nicht glaubte, hatte Besseres zu tun, als sich darum zu kümmern,
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