Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
nur er diese nervenzerfetzende Erfahrung, oder waren diese verrückten Kinder einfach daran gewöhnt? Das Gefühl, gezogen zu werden, wurde stärker, als ob ihn irgend etwas langstrecken und durch einen Strohhalm saugen würde. Es war wie in einer Achterbahnsimulation, aber eigentlich mußten sie zwischen zwei Simulationen sein … Orlando konnte kaum noch denken. Er schien immer schneller zu werden, immer schneller …
Dann stürzte das Universum ein.
Alles blieb stehen, als ob etwas ihn mit einer Riesenhand gepackt hätte. Er hörte ferne Schreie, die dünnen Stimmen von Kindern, aber jetzt nicht mehr fröhlich. Ganz schwach, wie hinter einer dicken Tür, kreischten diese Kinder vor Entsetzen. Irgend etwas hatte sie … und es hatte auch Orlando.
Die Leere, das Nichts umschloß ihn immer fester, drückte zu wie eine Faust, die seine Gedanken und sein Herz erwürgte. Er hing hilflos in einem Bogen aus langsam fließendem Strom. Der Teil von ihm, der noch denken konnte, kämpfte dagegen an, aber kam nicht frei. Die Dunkelheit hatte ein Gewicht, und es zerquetschte ihn. Er spürte, wie er niedergewalzt und plattgepreßt wurde, bis sein letztes Quentchen Ich nur noch verzweifelt und immer langsamer flatterte wie ein Vogel unter einer dicken Decke.
Ich will nicht sterben! Es war ein sinnloser Gedanke, weil er nichts denken oder tun konnte, um das Geschehen irgendwie zu beeinflussen, aber dennoch hallte er immer wieder durch sein versiegendes Bewußtsein. Alle Todestripsimulationen der Welt hatten ihn darauf nicht vorbereiten können. Ich will nicht sterben! Ich will nicht… sterben …
Will… nicht…
Erstaunlicherweise war die Dunkelheit nicht unendlich.
Ein winziger Funke zog ihn aus der unaussprechlichen Leere heraus. Er stieg ihm willenlos entgegen, als wäre er eine Leiche, die vom Grund eines Flusses emporgehievt wurde. Der Funke wurde zu einem verschwommenen Lichtfleck. Nach der mörderischen Schwärze war das ein unglaubliches Geschenk.
Als er näher herantrieb, wuchs das Licht an, schoß in alle möglichen Richtungen und kratzte leuchtende Zeichen auf den endlosen Schiefer der Nacht. Aus Linien wurde ein Quadrat; das Quadrat gewann Tiefe und war ein Würfel, der seinerseits etwas derart Profanes wurde, daß er es einen Moment lang gar nicht glauben konnte. Was da in der Leere hing und jeden Augenblick größer wurde, war ein Büro – ein schlichter Raum mit Schreibtisch und Stühlen. Ob er dem Büro entgegenstieg oder dieses sich zu ihm herabsenkte, konnte er nicht sagen, aber es breitete sich aus und umgab ihn, und er fühlte, wie die eisige Starre in ihm sich veränderte und ein wenig löste.
Das ist ein Traum. Ich träume. Er war sicher – er war schon einmal mit seiner Buchse im Kopf eingeschlafen und kannte die Empfindung. Es ist die Lungenentzündung, ganz klar, ein Fiebertraum. Aber warum kann ich nicht aufwachen?
Der Raum glich einem ärztlichen Behandlungszimmer, aber alles darin war aus grauem Beton. Der wuchtige Schreibtisch sah aus wie ein steinerner Sarkophag, etwas aus einer Gruft. Hinter dem Tisch saß ein Mann – oder wenigstens hielt ihn Orlando für einen Mann: Wo das Gesicht hätte sein sollen, war eine strahlende Leere.
»Ich träume, stimmt’s?« fragte er.
Das Wesen hinter dem Schreibtisch schien die Frage nicht gehört zu haben. »Warum willst du zu uns kommen und für uns arbeiten?« Die Stimme war hoch, aber begütigend.
Nie im Leben hätte er ein solches Gespräch voraussehen können. »Ich … will für niemanden arbeiten. Weil … ich bin doch noch ein Kind.«
Eine Tür in der Wand hinter dem Schreibtisch schwang langsam auf und gab den Blick auf wirbelndes, rauchiges blaues Licht frei. Im Innern dieser Helligkeit bewegte sich etwas, ein Schatten ohne erkennbare Gestalt, der ihm dennoch Grauen einflößte.
»Er will dich«, sagte die leuchtende Person. »Er nimmt jeden – er langweilt sich, mußt du wissen. Aber wir auf unserer Seite legen ein wenig höhere Maßstäbe an. Unsere Auswahl ist sehr streng. Das ist nicht persönlich gemeint.«
»Ich kann noch keine Stelle haben. Ich gehe noch zur Schule, weißt du …« Dies war ein Traum – es mußte einer sein. Oder vielleicht war es etwas Schlimmeres. Vielleicht lag er im Sterben, und sein Bewußtsein hatte sich noch diese letzte Szene zurechtphantasiert.
Das Ding in dem Raum dahinter regte sich, daß das Licht davon flackerte. Orlando hörte es schnaufen, tiefe, krächzende Atemzüge mit großen
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