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Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten

Titel: Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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was auf den faulenden Knochenhaufen an dem großen, verdreckten Fluß vor sich gehen mochte.
    An jenem Tag vor zwei Jahren, als er seine städtische Kleidung so bedenkenlos und vollkommen abgelegt hatte, wie eine Schlange ihre Haut abstreift, hatte er jeden Haufen menschlicher Gebeine sorgfältig durchstöbert. Später sollte er diesen Gang auf der Suche nach unverwestem Fleisch wiederholen, denn die Diener Schivas leben nicht nur mit, sondern auch von Aas, aber an diesem ersten Tag hatte er nach etwas Dauerhafterem geforscht. Auf den verkohlten Überresten eines Brustkastens sitzend, hatte er es schließlich gefunden, vollständig bis auf einen Kieferknochen. Einen Moment lang hatte er sich müßig gefragt, was für Szenen diese leeren Augenhöhlen wohl einst gesehen, was für Tränen sie vergossen, was für Gedanken, Hoffnungen, Träume in der nunmehr hohlen Hirnschale gelebt haben mochten. Dann hatte er sich an die erste Lektion der Verbrennungsstätte erinnert: Alles endet so, doch auch das ist Illusion. Wie der Tod, für den der namenlose Schädel stand, ganz und gar Tod war, so war er auch kein Tod, lediglich eine Illusion der materiellen Welt.
    Innerlich neu gesammelt hatte er den Schädel mit hinunter zum Fluß genommen. Als die Sonne sank, genau wie die Sonne dieses Tages, um schließlich im westlichen Dunst zu erlöschen wie eine Fackel, die man in ein Becken mit schmutzigem Wasser taucht, hatte er einen scharfen Stein gefunden und sich an die Arbeit gemacht. Zuerst hatte er die Spitze des Steines in der Stirnmitte an der Stelle angesetzt, wo ein lebender Mann das Pundara-Zeichen anbrachte, und dann den Schädelknochen ringsherum eingekerbt, Stirnbein, Schläfenbein, Hinterhauptsbein, Worte aus seinem früheren Leben, die er so problemlos von sich abfallen ließ, wie er seine Kleider abgelegt hatte. Als der Kreis umrissen war, hatte er die scharfe Kante des Steines genommen – obwohl auch die nicht sonderlich scharf war – und angefangen zu sägen.
    All seiner Geduld zum Trotz – er hatte jene erste Nacht ohne Feuer durchgestanden, nackt und zitternd, um nicht die Konzentration zu verlieren – war es keine leichte Arbeit gewesen. Er wußte, daß andere seiner Art sich einen Schädel aussuchten, der bereits vom Feuer mürbe gemacht oder in manchen Fällen schon aufgesprungen war, aber er hatte an die extremen Strapazen gedacht, die vor ihm lagen, und sich keinen derartigen Luxus gestattet. So kam es, daß er erst, als die Sonne schon wieder im Osten aufgegangen war und den Fluß kupferrot gefärbt hatte, den oberen Teil des Schädels abhatte und den Rest beiseite warf.
    Er hatte dann das Schädelstück mit zum Fluß genommen und zum erstenmal seit seiner Ankunft das heilige Wasser berührt. Obwohl ihm die Kehle vor Durst schon seit Stunden wie Feuer gebrannt hatte, schmirgelte er erst noch die scharfen Kanten der Schale an einem flachen Felsen ab, ehe er sich gestattete, sie in den Fluß zu tauchen und zu trinken. Als das verseuchte Wasser der Mutter Ganga ihm durch die Kehle geronnen und ein Feuer anderer Art an die Stelle des Durstes getreten war, hatte er sich von einer großen Klarheit durchdrungen gefühlt.
    O Schiva, hatte er gedacht, ich entsage den Schlingen der Maya. Ich warte auf deine Musik.
     
    Jetzt, wo er die Schale zum letztenmal anblickte, begann der Aghori zu sprechen. Seine seit Monaten nicht mehr gebrauchte Stimme war trocken und schwach, aber er sprach zu niemand anderem als sich selbst.
    »Es kam Schiva zu Ohren, daß im Wald von Taragam zehntausend ketzerische Priester lebten. Diese Ketzer lehrten, das Universum sei ewig, die Seelen hätten keinen Herrn und das Verrichten von Werken allein reiche aus zur Erlösung. Schiva beschloß, sie aufzusuchen und über ihre Irrtümer aufzuklären.
    Zu Vischnu, dem Erhalter, sprach er: ›Komm, du sollst mich begleiten. Ich werde mir den Anschein eines wandernden Yogis geben, und du wirst als die schöne Frau des Yogis erscheinen, und so werden wir diesen ketzerischen Rischis eine Lehre erteilen.‹ Also verwandelten sich er und Vischnu und begaben sich unter die Priester im Wald von Taragam.
    Alle Frauen der Priester wurden von inbrünstigem Verlangen nach dem mächtigen Yogi ergriffen, der zu ihnen kam, und die Rischis selbst waren alle voll Verlangen nach der Frau des Yogis. Alle Tätigkeiten kamen zum Erliegen, und es entstand eine große Unruhe unter den Priestern. Endlich beschlossen sie, den Yogi und seine Frau zu verfluchen, aber alle

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