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Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten

Titel: Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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ihre Flüche blieben ohne Wirkung.
    Da schichteten und entzündeten die Priester ein Opferfeuer und riefen daraus einen furchtbaren Tiger hervor, der sich auf Schiva stürzte, um ihn zu vernichten. Aber Schiva lächelte nur milde, zog dem Tiger allein mit dem kleinen Finger das Fell ab und legte sich das Fell als Umhang um.
    Die wütenden Rischis zauberten daraufhin eine schreckliche Schlange herbei, riesengroß und giftig, aber Schiva lächelte abermals, hob sie hoch und hängte sie sich als Girlande um den Hals. Die Priester trauten ihren Augen nicht.
    Zuletzt brachten die Priester einen gräßlichen schwarzen Zwerg mit einer Keule hervor, die Berge zerschmettern konnte, aber Schiva lachte nur, stellte seinen Fuß auf den Rücken des Zwerges und fing an zu tanzen. Schivas Tanz ist der Ursprung aller Bewegung im Universum, und sein Anblick und der prachtvolle Glanz des aufreißenden Himmels erfüllte die Herzen der ketzerischen Priester mit Furcht und Schrecken. Sie warfen sich vor ihm nieder und baten um Gnade. Er tanzte für sie seine fünf Taten, Schöpfung, Erhaltung, Zerstörung, Verkörperung und Erlösung, und als sie Schivas Tanz gesehen hatten, waren die Priester von der Illusion befreit und wurden seine Anhänger, und der Irrtum war ihnen ein für allemal aus den Seelen gebrannt.
    So kommt es, daß der Erste Beweger – manchmal auch ›der Schrecken‹ und ›der Zerstörer‹ genannt – in seinem Tanz auf dem Rücken der Finsternis das Leben wie auch den Tod alles Seienden in sich birgt. Aus diesem Grund wohnen seine Diener auf der Leichenstätte und ist das Herz seines Dieners wüst und leer wie die Leichenstätte, wo das Ich und seine Gedanken und Taten verbrannt werden und nichts übrigbleibt als allein der Tänzer.«
    Als er fertiggesprochen hatte, verneigte er sich und schloß die Augen. Nach einer Weile stellte er seine Schale auf den sandigen Boden, hob einen schweren Stein hoch und zerschmetterte sie.
    Die Sonne war untergegangen, und nur noch ein blutiger Lichtstreif zog sich über den Horizont hinter der Stadt. Der Aghori stand auf und schritt durch die Asche und den Rauch zu der Stelle im Schilf, wo er vor vierundzwanzig Monaten seine Aktentasche in einen Plastikbeutel getan und in einem Steinhaufen versteckt hatte. Er holte sie aus dem Beutel, legte seinen Daumen auf das Schloß und öffnete sie. Der Geruch, der aus der Tasche aufstieg und in eine Nase drang, die nur noch den Geruch des Beinhauses gewöhnt war, kam aus einem anderen Leben, einem Leben, das ihm unvorstellbar anders vorkam. Einen Augenblick lang ließ er seine rauh gewordenen Finger die fast unglaubliche Weichheit der Kleidung genießen, die die ganze Zeit auf ihn gewartet hatte, und staunte darüber, daß er solche Sachen einmal völlig gedankenlos getragen hatte. Dann hob er das seidige Stoffbündel hoch und holte darunter ein Pad in einem teuren Lederetui hervor. Er klappte den Deckel auf und strich mit dem Finger über den Touchscreen. Der Zündchip war noch geladen, und der Bildschirm leuchtete auf. Er entfernte den Verschluß seiner Neurokanüle und betupfte sie mit Alkohol aus der Aktentasche – es gab Dinge, für die selbst das heilige Wasser von Mutter Ganga nicht ganz geeignet war –, dann entrollte er aus der Seite des Pads ein Glasfaserkabel und stöpselte es ein.
    Zehn Minuten später zog Nandi Paradivasch das Kabel wieder heraus und stand auf. Wie erwartet hatte die Mitteilung vorgelegen. Es war Zeit, daß er ging.
    Er schlüpfte in Hose und Hemd, gegen deren sanftes Streicheln auf seiner Haut er sich nicht wehren konnte, dann setzte er sich auf einen Stein, um seine Schuhe anzuziehen. Die Verbrennungsstätte hatte ihn vorbereitet, aber für die nächste Etappe seiner Fahrt mußte er in die Stadt zurückkehren. Um das zu tun, was als nächstes anstand, mußte er über eine ansehnliche Bandbreite verfügen können.
    Die Gralsbruderschaft hat ihre Instrumente ergriffen, jetzt müssen wir, Der Kreis, unsere ergreifen. Noch andere sind von der Musik angezogen worden, wie wir es erwartet hatten. Und nur Schiva weiß, wie es ausgehen wird.
    Er schloß die Aktentasche und stieg das sandige Ufer empor. Mittlerweile war es Abend geworden, und die Lichter der Großstadt glitzerten vor ihm wie ein Juwelenhalsband auf der dunklen Brust Parvatis, der Frau des Zerstörers.
    Es hat begonnen, sagte er sich. Der Tanz hat begonnen.

Vier
Die Stadt
    Und er hob an und sprach:
    »Gefallen, gefallen ist Babel,
    und alle Bilder ihrer

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