Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
was sie erfahren hatte, ein Bild zu machen. Techniken des neunzehnten und des zwanzigsten Jahrhunderts schienen hier bunt durcheinander zu gehen, soweit sie die Unterschiede zwischen beiden in Erinnerung hatte. Die Menschen sahen ungefähr wie Asiaten oder Orientalen aus, wenngleich sie in der Stadt auch ein paar gesehen hatte, die hellere oder dunklere Haut hatten. Der Vorarbeiter hatte noch nie etwas von Englisch gehört, was hindeuten konnte auf eine große Distanz zu englischsprachigen Völkern oder auf eine Welt, in der überhaupt kein Englisch gesprochen wurde, oder schlicht darauf, daß der Vorarbeiter von der Welt keine Ahnung hatte. Immerhin schienen sie eine altangesehene Religion und einen Gottkönig zu haben – aber war das ein wirklicher Mensch oder nur eine Redensart? –, und die Lastwagenfahrerin hatte sich so angehört, als ob es eine Art regierende Ratsversammlung gäbe.
Renie seufzte verzagt. Damit war nicht viel anzufangen. Sie vertrödelten Zeit, kostbare, kostbare Zeit, aber ihr fiel rein gar nichts ein, was sie anders machen konnten. Jetzt waren sie unterwegs nach Temilún, das offenbar eine größere Stadt war. Und wenn sie auch dort ihrem Ziel nicht näherkamen, was dann? Weiter zur nächsten? Sollte diese Expedition, für die Singh mit dem Leben bezahlt hatte, bloß eine Busfahrt nach der anderen werden, eine einzige schlechte Urlaubsreise?
!Xabbu wandte sich vom Fenster ab und legte seinen Kopf dicht an ihr Ohr. Er war bis jetzt die Fahrt über still gewesen, da aller verfügbare Raum auf den Sitzen und in den Gängen mit Passagieren vollgestopft war, davon mindestens ein halbes Dutzend nicht mehr als einen Meter von Renies eingezwängtem Sitz entfernt. Viele dieser Passagiere hatten auch Hühner dabei oder andere Kleintiere, die Renie nicht sicher identifizieren konnte, was das Desinteresse des Busfahrers an !Xabbu erklärte, aber keines dieser Wesen schien zum Reden aufgelegt zu sein, weshalb der Pavian auf Renies Schoß jetzt sehr leise flüsterte.
»Ich denke die ganze Zeit darüber nach, wonach wir Ausschau halten müssen«, sagte er. »Wenn wir die Leute suchen, denen dieses Otherland-Netzwerk gehört, müssen wir erst etwas darüber in Erfahrung bringen, wer in dieser Welt die Macht ausübt.«
»Und wie sollen wir das machen?« murmelte Renie. »In eine Bibliothek gehen? Ich nehme an, daß es hier welche gibt, aber dafür müssen wir wahrscheinlich eine ziemlich große Stadt finden.«
!Xabbu sprach jetzt ein bißchen lauter, weil eine vor ihnen sitzende Frau zu singen angefangen hatte, ein wortloses Lied, das Renie ein wenig an die Stammesgesänge erinnerte, die ihr Vater und seine Freunde manchmal anstimmten, wenn das Bier reichlich geflossen war. »Oder vielleicht werden wir uns mit jemand anfreunden müssen, der uns sagen kann, was wir wissen müssen.«
Renie schaute sich um, aber niemand nahm von ihnen Notiz. Hinter den Fenstern sah sie gerodetes Ackerland und ein paar Häuser und dachte bei sich, daß sie sich wohl der nächsten Stadt näherten. »Aber wie können wir jemand trauen? Du mußt bedenken, daß jeder in diesem Bus direkt an das Betriebssystem angeschlossen sein könnte. Sie sind nicht echt, !Xabbu – jedenfalls die meisten von ihnen können nicht echt sein.«
Seine Entgegnung wurde von einem Druck an ihrem Arm unterbrochen. Martine hatte sich zu ihr hinübergebeugt und klammerte sich dabei an, als wollte sie verhindern, daß sie hinfiel. Ihre Simaugen irrten immer noch ziellos umher, aber das Gesicht verriet eine neue Wachheit.
»Martine? Ich bin’s, Renie. Kannst du mich hören?«
»Die … Dunkelheit… ist sehr dicht.« Sie hörte sich an wie ein verirrtes Kind, aber zum erstenmal war die Stimme erkennbar ihre eigene.
»Du bist in Sicherheit«, flüsterte Renie eindringlich. »Wir sind durchgekommen. Wir befinden uns im Otherland-Netzwerk.«
Das Gesicht drehte sich, aber die Augen stellten keinen Kontakt her. »Renie?«
»Ja, ich bin’s. Und !Xabbu ist auch hier. Hast du verstanden, was ich gerade gesagt habe? Wir sind durchgekommen. Wir sind drin.«
Martines Griff lockerte sich nicht, aber der ängstliche Blick in ihrem knochigen Gesicht entspannte sich. »So viel«, sagte sie. »Es gibt so viel…« Sie rang um Fassung. »Es hat viel Dunkelheit gegeben.«
!Xabbu drückte Renies anderen Arm. Sie kam sich langsam vor wie die Mutter zu vieler Kinder. »Kannst du uns sehen, Martine? Deine Augen blicken so ungerichtet.«
Das Gesicht der Frau
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