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Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten

Titel: Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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erschlaffte einen Moment, als ob sie einen unerwarteten Schlag abbekommen hätte. »Ich … mir ist etwas zugestoßen. Ich bin noch nicht ganz ich selbst.« Sie wandte ihr Gesicht Renie zu. »Sag mir, was ist mit Singh passiert?«
    »Er ist tot, Martine. Was immer das für ein Ding war, es hat ihn erwischt. Ich … ich schwöre, ich hab gespürt, wie es ihn getötet hat.«
    Martine schüttelte kläglich den Kopf. »Ich auch. Ich hatte gehofft, ich hätte es bloß geträumt.«
    !Xabbu drückte fester. Renie griff nach seiner Hand, um sie wegzutun, als sie sah, daß er aus dem Fenster starrte. » !Xabbu ?«
    »Schau, Renie, schau!« Er flüsterte nicht. Gleich darauf vergaß auch sie ihre Vorsicht.
    Der Bus hatte eine weite Kurve genommen, und zum erstenmal konnte sie jenseits der Bäume einen Horizont erkennen. Ein flaches silbernes Band spannte sich über den fernen Rand des Himmels, ein langgezogenes silbernes Spiegeln, das nur Wasser sein konnte, der Größe nach zu urteilen eine Bucht oder ein Meer. Aber was den verwandelten Buschmann in Bann geschlagen hatte und jetzt Renie halb von ihrem Sitz hochriß, war das, was davorlag und von dem metallischen Gleißen scharf abstach mit komplizierten Bögen und Spitztürmen, die in der Nachmittagssonne glitzerten wie der größte Vergnügungspark aller Zeiten.
    »Oh«, hauchte sie. »Oh, sieh nur.«
    Martine regte sich ungeduldig. »Was ist?«
    »Es ist die Stadt. Die goldene Stadt.«
     
    Eine Stunde dauerte die restliche Fahrt nach Temilún, die über eine große Ebene voll menschlicher Wohnstätten – zuerst Bauerndörfer umgeben von wogenden Getreidefeldern, dann Vorstadthäuser in immer dichteren Ballungen und zunehmender Modernität –, Einkaufskomplexe, Autobahnüberführungen und Schilder mit unleserlichen schwungvollen Schriftzeichen führte. Und ständig wurde die Stadt am Horizont größer.
    Renie zwängte sich durch den Gang im Bus ganz nach vorn, wo sie besser sehen konnte. Sie schob sich zwischen zwei Männern mit durchstochenen Lippen hindurch, die mit dem Fahrer Witze rissen, und hing schwankend an der Stange neben der Vordertür, um zuzusehen, wie ein Traum Wirklichkeit wurde.
    Es sah in mancher Hinsicht wie ein Bild aus einem Märchenbuch aus, so völlig anders waren die Hochhäuser als die Wohntürme und funktionalen Wolkenkratzer Durbans. Einige waren gewaltige Stufenpyramiden mit Gärten und hängenden Pflanzen auf jeder Etage. Andere waren filigrane Strukturen, wie sie noch nie welche gesehen hatte, riesige Türme, die dennoch so gebaut waren, daß sie an Blumensträuße oder Getreidegarben erinnerten. Wieder andere, phantastisch und so wenig kategorisierbar wie abstrakte Skulpturen, hatten Winkel und Vorsprünge, die architektonisch unmöglich wirkten. Alle waren mit bunten Farben bemalt, die den Eindruck üppiger Blütenpracht noch verstärkten, aber die durchweg gebräuchlichste Farbe war ein strahlendes Goldgelb. Funkelndes Gold krönte die höchsten Pyramiden und wand sich in Spiralstreifen die hohen Türme empor. Einige der Gebäude waren von oben bis unten vergoldet worden, so daß selbst die dunkelsten Winkel und tiefsten Nischen noch glänzten. Der Anblick hielt alles, was die verschwommene Momentaufnahme in Susans Labor versprochen hatte, und mehr. Es war eine Stadt, die Wahnsinnige gebaut hatten, aber Wahnsinnige, die Genie besaßen.
    Als der Bus durch die äußeren Ringe der Metropole ratterte, entrückten die Spitzen der hohen Gebäude dem Blick durchs Fenster. Renie schob sich zwischen den dichtgedrängten Passagieren zu ihrem Platz zurück, außer Atem vor Erregung.
    »Es ist unglaublich.« Sie konnte das rauschhafte Gefühl nicht unterdrücken, auch wenn sie wußte, daß es gefährlich war. »Ich kann’s noch gar nicht fassen, daß wir sie gefunden haben. Wir haben sie gefunden!«
    Martine war sehr still geblieben. Sie sagte auch jetzt nichts, sondern nahm einfach Renies Hand und brachte damit deren Gedanken auf eine andere Bahn. Inmitten des großen Wunders geschah hier noch ein kleines: Martine, die geheimnisvolle Frau, die Stimme ohne Gesicht, war ein wirklicher Mensch geworden. Sicher, sie benutzte einen Simkörper genau wie ein Puppenspieler eine Marionette, und sie war viele tausend Meilen von Renies wirklichem Körper und noch weiter von diesem rein theoretischen Ort entfernt, und doch war sie hier; Renie konnte sie fühlen, konnte sogar Rückschlüsse auf ihre reale physische Person ziehen. Es war, als ob Renie endlich eine

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