Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
auf die größten Gebäude beschränkt zu sein schienen, aber ansonsten sah die Stadt in vieler Hinsicht aus, als wäre sie komplett aus einem Wildwestfilm hierherversetzt worden. Die hölzernen Gehsteige waren ein gutes Stück über den klebrigen Matsch hinausgehoben, die lange, die Stadt halbierende Hauptstraße sah aus wie eigens für Revolverduelle angelegt, und es gab bestimmt so viele Pferde wie Autos. Ein paar Männer schienen sogar eine frühmorgendliche Rauferei vor einer der Kneipen zu haben. Diese Männer und die anderen Leute, die Renie sah, waren besser gekleidet als die Urwaldarbeiter, aber außer der Tatsache, daß viele Umhänge aus leuchtend bunt gefärbter, gewebter Wolle trugen, konnte sie in der Tracht immer noch nichts Typisches ausmachen.
Die Laster knatterten durch die Stadt und hielten in einer Reihe auf der großen ungepflasterten Fläche vor dem Sägewerk. Die Fahrerin von Renies Lastwagen stieg aus und gab mit wortkarger Höflichkeit zu verstehen, daß sie und ihre kranke Freundin und ihr Affe es ihr nachtun könnten. Sie half Renie dabei, die halb bewußtlose Martine aus dem Führerhäuschen zu hieven, und empfahl ihnen dann, vom Rathaus aus mit dem Bus weiterzufahren.
Renie war erleichtert, als sie hörte, daß noch etwas anderes als diese Stadt existierte. »Ein Bus. Wunderbar. Aber wir… ich habe kein Geld bei mir.«
Die Lastwagenfahrerin starrte sie fassungslos an. »Kosten städtische Busse neuerdings Geld?« sagte sie schließlich. »Bei allen Göttern des Himmels, was für eine Scheiße wird sich der Hohe Rat als nächstes ausdenken? Der Gottkönig sollte die ganzen Kerle hinrichten lassen und nochmal von vorn anfangen.«
Wie nach der Überraschung der Fahrerin zu vermuten gewesen, war die Busfahrt kostenlos. Mit der verstohlenen Unterstützung von !Xabbu konnte Renie Martine helfen, die kurze Strecke zum Rathaus zu stolpern, wo sie sich zum Warten auf die Treppe setzten. Die Französin schien immer noch die schrecklichen Augenblicke zu durchleben, als sie in das Otherland-System eingedrungen waren und alles so furchtbar fehlgeschlagen war, aber wenn man ihr zuredete, konnte sie sich beinahe normal bewegen, und ein- oder zweimal verspürte Renie, wenn sie Martines Hand preßte, sogar einen Gegendruck, als ob etwas im Innern darum rang, an die Oberfläche zu kommen.
Ich hoffe, sie schafft es, dachte Renie. Ohne Singh ist sie unsere einzige Hoffnung, durch dies alles durchzusteigen. Sie betrachtete die fremde und doch vollkommen realistische Umgebung, und ihr wurde fast übel. Was rede ich mir da ein? Schau doch mal hin! Stell dir vor, wie viel Hirn und Geld und Technik nötig waren, um das zu schaffen – und wir wollen die Anführer auf eigene Faust festnehmen oder was? Das ganze Vorhaben war idiotisch von Anfang an.
Das Gefühl der Hilflosigkeit war so stark, daß Renie nicht einmal den Willen zu sprechen aufbrachte. Sie, !Xabbu und Martine saßen schweigend auf den Stufen, ein merkwürdig zusammengewürfeltes Trio, das sich entsprechend viele versteckte Blicke und geflüsterte Bemerkungen der Passanten einfing.
Renie meinte zu bemerken, daß der Urwald ein wenig lichter wurde, aber sie war sich nicht ganz sicher. Nachdem Stunde um Stunde zahllose Massen von Bäumen an ihr vorübergezogen waren, sah sie die monotone Landschaft auch dann noch vorbeigleiten, wenn sie die Augen schloß.
Der mit Goldzähnen und einem Federmedaillon geschmückte Busfahrer hatte angesichts ihrer beiden ungewöhnlichen Reisebegleiter nicht einmal mit der Wimper gezuckt, aber als Renie ihn gefragt hatte, wo der Bus hinfahre – diesbezügliche Angaben über der Windschutzscheibe konnte sie genauso wenig lesen wie die Buchrücken des Vorarbeiters –, hatte er sie angeglotzt, als hätte sie ihn aufgefordert, mit seinem verbeulten alten Vehikel zu fliegen.
»Nach Temilún, gute Frau«, hatte er geantwortet und dabei seine klotzige Sonnenbrille gesenkt, um sie genauer zu mustern, vielleicht für den Fall, daß er später von jemandem um eine Personenbeschreibung der entlaufenen Irren gebeten wurde. »Zur Stadt des Gottkönigs – gepriesen sei er, der Herr über Leben und Tod, der Höchsterhabene. Wo sollte er sonst hinfahren?« Er deutete auf die eine gerade Straße, die aus der Sägewerkstadt hinausführte. »Wo könnte er sonst hinfahren?«
Jetzt, wo !Xabbu auf ihrem Schoß stand, die Hände ans Fenster gepreßt, und Martine an ihrer Schulter schlief, versuchte Renie sich aus all dem,
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