Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
wichtige Brieffreundin aus ihrer Kindheit kennengelernt hätte.
Unfähig, dieses merkwürdige Glück auszudrücken, preßte sie einfach Martines Hand.
Tief in den goldüberschatteten Schluchten der Stadt hielt der Bus schließlich an. Martine konnte mittlerweile leidlich gut aus eigener Kraft gehen. Sie und Renie und !Xabbu warteten ungeduldig, bis die Schlange der übrigen Fahrgäste draußen war, ehe sie den Fliesenboden des Busbahnhofs betraten, einer gewaltigen hohlen Pyramide mit kolossalem Balkenwerk, das Stufe um Stufe anstieg wie ein kaleidoskopisches Spinnennetz. Aber bevor sie die Pracht des hohen Innenraums richtig bewundert konnten, bauten sich zwei dunkelgekleidete Männer vor ihnen auf.
»Verzeihung«, sagte einer von ihnen. »Ihr seid doch eben mit dem Bus von Aracatacá gekommen, nicht wahr?«
Renies Kopf arbeitete fieberhaft, aber sie kam auf keine Ausflucht. Sie trugen Mäntel mit kleinen förmlichen Pelerinen, und beiden sprach unerbittliche Pflichterfüllung aus den Augen. Alle Hoffnung, es könnte sich um besonders strenge Fahrscheinkontrolleure handeln, verging, als Renies Blick auf die merkwürdig zeremoniell wirkenden Knüppel an ihren Gürteln und auf ihre blanken schwarzen Helme fiel, die den Köpfen fauchender Urwaldkatzen nachgebildet waren.
»Ja, wir waren…«
»Würdet ihr mir dann bitte eure Ausweise zeigen?«
Ratlos klopfte Renie die Taschen ihres Jumpsuits ab. Martine starrte tagträumerisch ins Leere.
»Wenn die Vorstellung unseretwegen geschieht, kannst du damit aufhören.« Sein Kopf unter dem hohen Helm schien kahl rasiert zu sein. »Ihr seid Auswärtige. Wir haben euch erwartet.« Er trat vor und faßte Renies Arm. Sein Kollege zögerte einen Moment, den Blick auf !Xabbu gerichtet. »Der Affe kommt natürlich mit«, sagte der erste Polizist. »Ich bin sicher, daß keiner von euch noch weiter Zeit vergeuden möchte, also gehen wir. Bitte begnügt euch mit der Mitteilung, daß ihr unverzüglich in den Großen Palast gebracht werdet. So lauten unsere Befehle.«
!Xabbu senkte den Kopf, nahm dann Renies Hand und ging fügsam mit, als der Polizist sie durch den Bahnhof zum Ausgang führte.
»Was wollt ihr von uns?« Renie hatte nicht den Eindruck, viel ausrichten zu können, aber sie wollte nichts unversucht lassen. »Wir haben nichts getan. Wir waren im Urwald wandern und haben uns verirrt. Ich habe meine Papiere zuhause.«
Der Polizist stieß die Tür auf. Draußen auf der Straße stand ein großer Kastenwagen, der Dampf ausstieß wie ein schlafender Drache. Der zweite Polizist zog die Hecktüren auf und half Martine beim Einstieg in das düstere Innere.
»Bitte, gute Frau.« Die Stimme des ersten Polizisten war kalt. »Es ist in jeder Hinsicht besser, wenn du dir deine Fragen für unsere Herren aufhebst. Wir haben schon seit Tagen Anweisung, auf euch zu warten. Außerdem solltet ihr euch geehrt fühlen. Der Hohe Rat scheint besondere Pläne mit euch allen zu haben.«
Als Renie und !Xabbu zu Martine in den Wagen verfrachtet waren, wurden die Türen zugeschlagen. Es gab keine Fenster. Die Finsternis war total.
> »Wir sind schon seit Stunden hier.« Renie war in der kleinen Zelle so viele Male dieselbe Achterschleife gelaufen, daß sie mittlerweile die Augen dabei schloß, um sich besser konzentrieren zu können. Alles, was sie gesehen hatte, der Urwald, die prachtvolle Stadt und jetzt dieses trostlose steinerne Verlies aus einem schlechten Gruselroman, ging vor ihrem inneren Auge drunter und drüber, aber sie wurde nicht daraus schlau. »Wozu diese ganze Veranstaltung? Wenn sie uns hypnotisieren wollen, oder was immer dieses Kalimonster damals mit mir versucht hat, warum tun sie es dann nicht einfach? Haben sie denn keine Angst, daß wir einfach offline gehen?«
»Vielleicht können wir das gar nicht«, bemerkte !Xabbu . Kurz nachdem der Polizist sie eingesperrt hatte, war er zu dem einzigen hohen Fenster hinaufgeklettert, und nachdem er sich vergewissert hatte, daß auch ein mittelgroßer Affe nicht durch die Vergitterung schlüpfen konnte, war er wieder herabgekommen und hatte sich in eine Ecke gekauert. Er hatte sogar eine Weile geschlafen, was Renie unerklärlicherweise ziemlich verstimmt hatte. »Vielleicht wissen sie etwas darüber, was wir nicht wissen. Wollen wir einen Versuch riskieren?«
»Noch nicht«, sagte Martine. »Es könnte nicht klappen – sie haben bereits bewiesen, daß sie unsere Gehirne in für uns unbegreiflicher Weise manipulieren
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