Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
können –, und selbst wenn es ginge, hätten wir uns damit geschlagen gegeben.«
»Auf jeden Fall sind das die Leute, die wir gesucht haben.« Renie blieb stehen und öffnete die Augen. Ihre Freunde sahen sie mit Blicken an, in denen sie hilflose Abgestumpftheit zu erkennen meinte, aber sie ihrerseits kämpfte gegen eine immer stärker anschwellende Wut an. »Wenn ich es nicht schon wüßte, dann könnte ich es allein schon aus dem Verhalten dieser abgebrühten, selbstgefälligen Polizisten schließen. Das sind die Leute, die versucht haben, uns umzubringen, die Doktor Van Bleeck und Singh und weiß Gott wie viele andere tatsächlich umgebracht haben, und sie sind auch noch stolz darauf. Arrogante Drecksäue.«
»Sich aufzuregen, wird uns nichts nützen«, sagte Martine sanft.
»Ach ja? Und was wird uns nützen? Sollen wir sagen, es tut uns leid? Wir werden eure gräßlichen gottverdammten Spiele nie wieder stören, darum laßt uns bitte bitte nur mit einer Verwarnung wieder nach Hause?« Sie ballte ihre Hände zu Fäusten und drosch in die Luft. »Scheiße! Ich hab’s satt, von diesen Monstern herumgeschubst und gejagt und erschreckt und … und manipuliert zu werden!«
»Renie …«, fing Martine an.
»Sag mir bloß nicht, ich soll mich nicht aufregen! Dein Bruder liegt nicht im Krankenhaus in Quarantäne. Dein Bruder ist keine Pflanze, die von Apparaten am Leben gehalten wird, oder? Dein Bruder, der darauf vertraut hatte, daß du ihn beschützt?«
»Nein, Renie. Meine Familie hat nicht das erlitten, was deine erlitten hat.«
Sie merkte auf einmal, daß sie weinte, und wischte sich mit dem Handrücken die Augen. »Entschuldigung, Martine, aber…«
Es rasselte an der Zellentür, dann wurde sie aufgeschoben. Draußen standen dieselben zwei Polizisten, unheimliche schwarze Gestalten im düsteren Korridor.
»Kommt mit. Der Höchsterhabene wünscht euch zu sehen.«
»Warum läufst du nicht weg?« flüsterte Renie erregt. »Du könntest dich irgendwo verstecken und uns dann helfen auszubrechen. Ich faß es nicht, daß du’s nicht mal versuchen willst.«
!Xabbus Blick wirkte selbst durch den Filter des Paviangesichts betroffen. »Ich würde dich nicht verlassen, wo wir so wenig über diese Welt wissen. Und wenn sie darauf aus sind, unsere Gehirne zu beeinflussen, sind wir gemeinsam stärker.«
Der erste Polizist warf den Flüsternden über die Schulter einen grimmigen Blick zu.
Sie stiegen eine lange Treppe hoch und kamen in einen weitläufigen Saal mit einem blank polierten Steinfußboden. Aus der Form und Höhe der Decke schloß Renie, daß sie sich im Innern einer der anderen Pyramiden befanden, die sie vom Bus aus gesehen hatten. Scharen dunkelhaariger Menschen in den verschiedensten Zeremonialtrachten, die meisten mit Pelerinen ähnlich denen an den Polizeiuniformen, liefen geschäftig in alle Richtungen. Diese Massen, jeder in Eile und im Vollgefühl des eigenen Strebens, schenkten den Gefangenen keine besondere Beachtung; die einzigen, die ein gewisses Interesse erkennen ließen, waren die sechs bewaffneten Wachposten, die vor der Flügeltür am anderen Ende des Saales standen. Diese massigen Männer hatten Tierhelme, die noch furchterregender und realistischer waren als die der Polizisten, dazu lange, altertümlich aussehende Gewehre und sehr effektiv aussehende Knüppel, die sie allem Anschein nach ganz gern an jemand betätigt hätten.
Als Renie und die anderen näherkamen, warfen sich die Wachen vorsorglich schon einmal in Positur, aber nachdem sie die Abzeichen der Polizisten mit großer Sorgfalt inspiziert hatten, traten sie widerwillig beiseite und machten die Türflügel auf. Renie und ihre Freunde wurden hineingeschoben, aber ihre Bewacher blieben draußen, als sich die Tür wieder schloß.
Sie waren allein in einem Raum, der fast so groß war wie der Saal, durch den sie gerade gekommen waren. Die steinernen Wände waren mit Szenen phantastischer Kämpfe zwischen Menschen und Ungeheuern bemalt. In der Mitte des Raumes stand im Lichtkreis eines elektrischen Kronleuchters von ausladendem und groteskem Design ein langer Tisch umgeben von leeren Stühlen. Der hinterste Stuhl war merklich höher als die anderen und hatte einen Baldachin, der aus massivem Gold zu sein schien und wie die durch Wolken strahlende Sonnenscheibe geformt war.
»Der Hohe Rat ist nicht anwesend. Aber ich dachte mir, ihr hättet vielleicht Interesse, den Tagungsraum zu sehen.«
Eine Gestalt trat hinter dem
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