Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten

Titel: Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
Vom Netzwerk:
vor seinem Metallschreibtisch an und fragte, ob sie eine Tasse eines Getränkes wolle, das sich offenbar nicht übersetzen ließ; sie bejahte. !Xabbu kauerte sich mit großen Augen neben sie.
    Der Raum, in dem sie saßen, bot ebenfalls keine deutlichen Anhaltspunkte. Auf einem Regal standen ein paar Bücher, aber die Schrift auf den Buchrücken bestand aus fremdartigen Krakeln, die sie nicht entziffern konnte: Anscheinend berücksichtigten die Übersetzungsalgorithmen nur gesprochene Sprache. Es gab auch eine Art Schrein, im Prinzip ein Kasten mit einem Rahmen bunter Federn, der mehrere kleine hölzerne Menschenfiguren mit Tierköpfen enthielt.
    »Ich kann mir auf diesen Ort keinen Reim machen«, flüsterte sie. !Xabbus kleine Finger drückten ihre Hand zum Zeichen, daß der Vorarbeiter zurückkam.
    Renie nahm die dampfende Tasse dankend entgegen, führte sie an ihr Gesicht und schnupperte, ehe sie sich darauf besann, daß der V-Tank, wie !Xabbu geklagt hatte, ihr eine sehr begrenzte Geruchswahrnehmung gestattete. Aber allein die Tatsache, daß sie zu riechen versucht hatte, deutete darauf hin, daß sich ihre VR-Reflexe an diesem Ort bereits verschlechterten; wenn sie nicht aufpaßte, konnte sie leicht vergessen, daß er nicht real war. Sie mußte die Tasse vorsichtig an die Lippen führen und sich vergewissern, daß sie sie richtig ansetzte, denn ihr Mund war die einzige Stelle, wo sie keine Empfindung hatte – es war, als wollte sie nach einer Mundbetäubung beim Zahnarzt trinken.
    »Was für ein Affe ist das?« Tok beäugte !Xabbu . »Die Art habe ich noch nie gesehen.«
    »Ich … ich weiß nicht. Ich habe ihn von einem Freund geschenkt bekommen, der … der viel gereist ist. Er ist ein sehr treues Haustier.«
    Tok nickte. Renie registrierte mit Erleichterung, daß das Wort offenbar übersetzt wurde. »Wie lange irrst du schon herum?« fragte er.
    Renie beschloß, sich möglichst nahe an die Wahrheit zu halten, was das Lügen immer erleichterte. »Ich habe eine Nacht allein im Urwald verbracht.«
    »Zu wievielt wart ihr?«
    Sie zögerte, aber sie hatte keine Wahl mehr. »Meinen Affen nicht mitgerechnet, waren wir zu zweit, meine Freundin und ich, als wir vom Rest der Gruppe getrennt wurden. Und dann habe ich sie auch noch verloren.«
    Er nickte abermals, als ob dies mit seiner persönlichen Rechnung übereinstimmte. »Und du bist natürlich eine Temilúni?«
    Das war ein etwas gefährlicheres Pflaster, aber Renie wagte es. »Ja, natürlich.« Sie wartete, aber auch dies schien die Vermutungen des Vorarbeiters zu bestätigen.
    »Ihr Städter denkt, ihr könntet einfach in den Dschungel spazieren, als ob es der (ein Name, den sie nicht richtig verstand) Park wäre. Aber in der Wildnis geht es anders zu. Ihr solltet vorsichtiger mit eurem Leben und eurer Gesundheit umgehen. Aber mitunter meinen es die Götter mit Narren und Wanderern gut.« Er blickte auf, murmelte etwas und machte über seiner Brust ein Zeichen. »Ich will dir etwas zeigen. Komm.« Er stand auf, ging um den Schreibtisch herum und deutete auf die Tür am rückwärtigen Ende des Büros.
    Dahinter befand sich der Wohnraum des Vorarbeiters, möbliert mit einem Tisch, einem Stuhl und einem Bett, das baldachinartig mit einem Moskitonetz verhängt war. Als er auf das Bett zutrat und das feine Netz zurückzog, preßte Renie sich gegen die Wand, weil sie befürchtete, daß er jetzt als Gegenleistung für die Rettung eine Gefälligkeit von ihr erwartete – aber es lag bereits jemand dort. Die schlafende Frau war klein und dunkelhaarig und langnasig wie Tok und hatte ein schlichtes weißes Baumwollkleid an. Renie erkannte sie nicht. Da sie nicht wußte, was sie tun sollte, blieb sie wie angewurzelt stehen, aber !Xabbu lief auf das Bett zu, hüpfte hinauf neben die Frau und sprang dann auf der dünnen Matratze auf und ab. Er versuchte ihr offensichtlich etwas mitzuteilen, aber sie brauchte eine ganze Weile, bis sie begriff.
    »Martine …?« Sie stürzte vor. Die Augen der Frau gingen zitternd auf, und die Pupillen huschten ungerichtet hin und her.
    »… Zugang… versperrt!« Martine, wenn sie es denn war, hob die Hände hoch, wie um eine drohende Gefahr abzuwehren. Die Stimme war fremd und hatte keinen französischen Akzent, aber die nächsten Worte beseitigten jeden Zweifel. »Nein, Singh, nicht… Ah, mein Gott, wie schrecklich!«
    In Renies Augen brannten Tränen beim Anblick ihrer Gefährtin, die sich auf dem Bett herumwarf und anscheinend immer noch

Weitere Kostenlose Bücher