Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
drin war.«
Als ihre Mutter in die Küche ging, um ihr eine Suppe in die Welle zu schieben, trödelte Christabel ins Arbeitszimmer, wo sich ihr Vater mit seinem Freund Captain Parkins unterhielt. Ihr Vater herrschte sie an, sie solle nach draußen gehen und spielen – dabei war sie krank von der Schule heimgeschickt worden! Sie setzte sich in den Flur, um mit ihrer Prinz-Pikapik-Puppe zu spielen. Papi war so grantig. Sie fragte sich, warum er und Captain Parkins nicht im Büro waren und ob es vielleicht mit der großen schlimmen geheimen Sache zusammenhing, die letzte Nacht passiert war. Ob er herausfinden würde, was sie getan hatte? Wenn ja, dann würde sie wahrscheinlich eine Strafe fürs ganze Leben bekommen.
Sie zog Prinz Pikapik aus dem Kissennest, das sie ihm gebaut hatte – die Otterpuppe kroch gern an dunkle, schattige Plätze –, und huschte näher an die Tür des Arbeitszimmers heran. Sie legte ihr Ohr an die Ritze, um zu probieren, ob sie etwas hören konnte. Christabel hatte das vorher noch nie gemacht. Sie kam sich vor wie eine Figur in einem Comicfilm.
»… echt eine gottverdammte Scheiße«, sagte Papis Freund gerade. »Aber wer hätte nach all den Jahren damit gerechnet?«
»Allerdings«, sagte ihr Vater. »Und das ist eine der Hauptfragen, nicht wahr? Warum gerade jetzt? Warum nicht vor fünfzehn Jahren, als wir ihn zum letztenmal umverlegten? Ich kapier’s einfach nicht, Ron. Du hast ihn nicht wegen einer seiner spinnigen Bestellungen vor den Kopf gestoßen, oder? Ihn zur Schnecke gemacht?«
Christabel verstand nicht alles, was sie sagten, aber sie war sich ziemlich sicher, daß sie sich darüber unterhielten, was in Herrn Sellars’ Haus vorgefallen war. Sie hatte am Morgen, bevor sie zur Schule ging, gehört, wie ihr Papi am Telefon über die Explosion und das Feuer geredet hatte.
»… Das wenigstens muß man dem alten Arsch lassen.« Captain Perkins lachte, aber es war ein böses Lachen. »Ich weiß nicht, wie er das alles hingekriegt hat, aber er hätte uns um ein Haar reingelegt.«
Christabels Hand krampfte sich um Prinz Pikapik zusammen. Die Puppe gab ein warnendes Quieken von sich.
»Wenn der Wagen nur ein bißchen länger gebrannt hätte«, fuhr Captain Perkins fort, »hätten wir den Unterschied zwischen dem Zeug, das er auf dem Sitz deponiert hatte, und einem echten verbrannten Sellars nicht mehr erkennen können. Asche, Fett, organische Abfallstoffe – er muß alles mit dem Teelöffel abgemessen haben, um das Verhältnis so genau hinzukriegen, der schlaue kleine Mistkerl.«
»Wir hätten die undichten Stellen gefunden«, sagte Christabels Papi.
»Schon, aber eher später als früher. Er hätte vielleicht noch vierundzwanzig Stunden Vorsprung dazu gehabt.«
Christabel hörte ihren Vater aufstehen. Sie erschrak, aber dann hörte sie ihn hin und her gehen, wie er es machte, wenn er telefonierte. »Kann sein. Aber Scheiße, Ron, das erklärt immer noch nicht, wie er in der Zeit, die er hatte, vom Stützpunkt runterkommen konnte. Er sitzt im Rollstuhl, Herrgott nochmal!«
»Die MP überprüft alles. Möglicherweise hat jemand Mitleid mit ihm gehabt und ihn irgendwohin mitgenommen. Oder er ist einfach den Hügel runtergerollt und ist in dieser Squattersiedlung untergeschlüpft. Aber wenn da einer was weiß, wird er das Maul aufmachen, wenn wir dieses Nest ausheben. Irgend jemand wird auspacken.«
»Vielleicht hatte er ja einen Verbündeten, irgend jemand, der ihm geholfen hat, ganz aus der Gegend zu verschwinden.«
»Wo hätte er so jemand finden sollen? Hier im Stützpunkt? Dafür würde der vors Kriegsgericht kommen, Mike. Und außerhalb des Stützpunkts kennt er niemand. Wir haben seine sämtlichen Kontakte überwacht, die Telefonate – er ist ja nicht mal ins Netz gegangen! Alles andere ist harmlos. Wir haben ihn sehr genau beobachtet. Eine Fernschachverbindung mit irgendeinem Rentner in Australien – ja ja, die haben wir sorgfältig überprüft –, ein paar Katalogbestellungen und Zeitschriftenabos, solche Sachen.«
»Trotzdem glaube ich nicht, daß er das ohne Hilfe von außen hingekriegt hätte. Irgendwer muß ihm geholfen haben. Und wenn ich den finde – mein lieber Mann, der wird sich wünschen, er wäre nie geboren worden.«
Irgendwo machte es bums. Christabel blickte auf. Prinz Pikapik war unter den Korridortisch gekrabbelt, und jetzt stieß die Otterpuppe immerzu gegen das Tischbein. Die Vase drohte jeden Augenblick herunterzufallen, und das würde ihr
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