Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
Füße auf das Balkongeländer.
Er hatte die Zigarre knapp zur Hälfte geraucht und betrachtete gerade versonnen die Suchscheinwerfer der Insel, die sich auf dem Wasser spiegelten wie bernsteingelbe Sterne, als ein viel kleineres Licht in einer Ecke seines Gesichtsfeldes zu blinken anfing. Das rauschende Monteverdi-Madrigal – seine Lieblingsmusik, wenn er eine kontemplative Szene spielte – sank auf ein melodisches Murmeln ab. Ein offenes Fenster überlagerte Dreads Blickfeld, und Antonio Heredia Celestinos kahlgeschorener Schädel hing über der dunklen Karibik, als ob er Wasser treten würde. Dread hätte es lieber gesehen, wenn Celestino tatsächlich Wasser getreten hätte.
»Ja?«
»Tut mir leid, dich zu stören, Jefe. Ich hoffe, du hast einen angenehmen Abend.«
»Was willst du, Celestino?« Die Art, wie der Mann sich immer mit nichtigen Förmlichkeiten aufhielt, war eine der Sachen, die Dread gegen den Strich gingen. Er war ein mehr als kompetenter Gearspezialist – die Beinhas würden niemals zweitklassige Techniker anheuern –, aber seine schwerfällige Humorlosigkeit war ebenso nervig, wie sie einen Mangel an Phantasie verriet.
»Ich habe gewisse Zweifel, was den Datenzapfer betrifft. Die Schutzvorrichtungen sind kompliziert, und es besteht das Risiko, daß schon die Vorarbeiten … Konsequenzen haben könnten.«
»Was soll das heißen?«
Celestino wackelte nervös mit dem Kopf und versuchte, ein gewinnendes Lächeln zustande zu bringen. Dread, ein Kind der häßlichsten Blechbaracken des australischen Outback, war hin und her gerissen zwischen Ekel und Belustigung. Wenn der Mann eine Stirnlocke gehabt hätte, dachte Dread, hätte er daran gezogen. »Ich fürchte, daß diese Voruntersuchungen, die Vorbereitungsarbeiten, äh … ich fürchte, daß sie den … den Betreffenden warnen könnten.«
»Den ›Betreffenden‹? Meinst du das Objekt? Was zum Teufel willst du eigentlich sagen, Celestino?« Dread, in dem langsam die Wut anschwoll, stellte das Madrigal ganz ab. »Hast du die Aktion irgendwie gefährdet? Rufst du mich an, um mir zu sagen, daß du, ups, die Sache leider zufällig vermasselt hast?«
»Nein, nein! Bitte, Jefe, ich habe nichts getan!« Dreads plötzlicher Zorn schien dem Mann mehr auszumachen als die Tatsache, daß man ihm Inkompetenz unterstellte. »Nein, deshalb möchte ich ja mit dir reden, Sir. Ich würde auf keinen Fall unsere Sicherheit aufs Spiel setzen, ohne dich zu konsultieren.« Er haspelte rasch eine Reihe von Befürchtungen herunter, die Dread zum größten Teil lachhaft übertrieben fand. Höchst verärgert kam Dread zu dem Schluß, daß dahinter etwas ganz Einfaches stand: Celestino hatte noch niemals ein derart knallhartes oder derart kompliziertes System geknackt, und er wollte sich versichern, daß er sich im Falle eines Fehlschlags damit herausreden konnte, er habe bloß Befehle befolgt.
Der Schwachkopf meint anscheinend, nur weil er in einer Wohnung sitzt, die mehrere Kilometer vom Schauplatz entfernt ist, würde er ein Scheitern dieser Aktion überleben. Er kennt offensichtlich den Alten Mann nicht.
»Worauf willst du hinaus, Celestino? Ich habe dir lange zugehört, ohne daß du mir etwas Neues gesagt hättest.«
»Ich wollte nur vorschlagen …« Das erschien ihm offenbar zu geradeheraus. »Ich dachte bloß, ob du vielleicht die Möglichkeit einer schmalspurigen Datenbombe in Erwägung gezogen hast. Wir könnten einen Killer in das System einspeisen und ihr gesamtes Hausnetz lahmlegen. Wenn wir unsere eigene Anlage richtig cod…«
»Stop.« Dread schloß die Augen und bemühte sich, ruhig zu bleiben. Zu seinem Leidwesen starrte ihm Celestinos verkniffenes Gesicht auch aus der Schwärze hinter seinen Lidern entgegen. »Hilf meiner Erinnerung auf – warst du nicht eine Zeitlang beim Militär?«
»BIM«, sagte Celestino mit einem Anflug von Stolz in der Stimme. »Brigada de Institutes Militares. Vier Jahre.«
»Na klar. Weißt du, wann diese Operation anfängt? Weißt du überhaupt etwas? Es sind keine achtzehn Stunden mehr bis dahin, und du kommst mir mit einem derartigen Scheißdreck. Datenbombe? Na klar warst du beim Militär – wenn dir was nicht geheuer ist, jag es in die Luft!« Er schnitt eine furchterregende Grimasse, wobei er allerdings vergaß, daß Celestino aus Sicherheitsgründen nur einen weitgehend ausdruckslosen Standardsim sah. »Du miese kleine Schwuchtel, was denkst du eigentlich, was wir hier veranstalten? Bloß einen netten
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