Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
Vorsicht mit den Titulaturen, mein Lieber.«
»… werde ich mich bemühen, sie zu beantworten. Aber das kann ich leider nicht in ein, zwei Sätzen machen. Ich muß euch um etwas Geduld bitten.«
»Bitten und bekommen ist zweierlei«, sagte Sweet William, aber winkte Sellars, fortzufahren. !Xabbu , der vielleicht einen besseren Blick haben wollte, sprang vom Stuhl auf den Tisch und hockte sich dicht neben Renie.
»Ich bin so etwas wie ein Experte für Datenbewegungen von einem Ort zum anderen«, begann Sellars. »Viele Leute beobachten Daten für einen bestimmten Zweck – Finanzmarktdaten, um Geld zu vermehren, meteorologische Daten, um das Wetter vorherzusagen –, aber meinem persönlichen Interesse entsprach es von jeher, die Muster selbst als Phänomene an sich zu betrachten und nicht im Hinblick auf das, was sie darstellen.«
Renie merkte, wie Martine auf dem Stuhl neben ihr steif wurde, aber auf dem Gesicht ihrer Gefährtin war nichts zu erkennen als derselbe verwirrte Blick.
»Anfänglich«, fuhr Sellars fort, »war mein Interesse an den Mustern, die uns heute hierhergeführt haben, in der Tat fast rein ideell. So wie ein Dichter die Art und Weise beobachten mag, wie Wasser läuft und spritzt und sich sammelt, ohne daß er das praktische Interesse eines Klempners oder eines Physikers hat, so fasziniert mich seit langem schon die Art und Weise, wie Information fließt, sich sammelt und weiterfließt. Aber auch einem Dichter fällt es auf, wenn der Abfluß verstopft ist und das Waschbecken überläuft. Ich bemerkte, daß es bestimmte sehr weitgreifende Datenflußmuster gab, die nicht mit dem übereinstimmten, was ich von den regulären Abläufen in der Informationssphäre wußte.«
»Was hat das alles mit uns zu tun?« fragte die Frau, die zusammen mit Quan Li gekommen war. Ihr Englisch hatte keinerlei persönliche Färbung. Renie fragte sich, ob das der akustische Effekt einer Übersetzungssoftware war.
Sellars unterbrach seine Ausführungen kurz. »Es ist wichtig, daß ihr meinen Weg versteht, sonst werdet ihr die Gründe für euren auch nicht verstehen. Bitte hört mich bis zu Ende an. Danach könnt ihr, wenn ihr wollt, hier weggehen und braucht nie wieder an diese Sache zu denken.«
»Soll das heißen, daß wir keine Gefangenen sind?« fragte die Frau.
Die Leere namens Sellars wandte sich Bolívar Atasco zu. »Gefangene? Was hast du ihnen erzählt?«
»Anscheinend haben einige Polizisten meinen dringenden Wunsch, daß die Neuankömmlinge hier in den Palast gebracht werden, falsch aufgefaßt«, sagte der Gottkönig hastig. »Es kann sein, daß meine Anweisungen ein wenig mißverständlich waren.«
»Nicht zu glauben«, bemerkte seine Frau.
»Nein, ihr seid keine Gefangenen.« Sellars sprach sehr entschieden. »Ich weiß, daß es euch allen nicht leicht gefallen sein kann, herzukommen …«
»Außer mir«, flötete Sweet William und fächelte sich mit seiner schwarzen Handschuhhand zu.
Renie riß der Geduldsfaden. »Still jetzt, zum Donnerwetter! Warum kann hier niemand einfach mal zuhören? Menschen sind tot, andere liegen im Sterben, und ich will hören, was dieser Sellars zu sagen hat!« Sie schlug mit der flachen Hand auf den Tisch und funkelte Sweet William an, der sich auf seinem Stuhl zusammenkauerte wie eine naß gespritzte Spinne, daß seine Federn und Spitzen nur so zitterten.
»Friede, Amazonenkönigin«, sagte er, die Augen vor gespieltem Entsetzen weit aufgerissen. »Ich halt schon den Rand.«
»Es kann euch allen nicht leicht gefallen sein, herzukommen«, wiederholte Sellars. »Auf jeden Fall war es sehr schwierig, euch hier zu versammeln. Deshalb hoffe ich, daß ihr mich bis zu Ende anhört, bevor ihr euch entscheidet.« Er hielt inne und tat einen tiefen, ächzenden Atemzug. Renie war eigenartig berührt. Hinter dem bizarren weißen Sim steckte ein lebendiger Mensch, jemand mit Ängsten und Sorgen wie jeder andere. »Wie gesagt, mir fielen rätselhafte Muster in dem virtuellen Universum auf, das manche Leute die Datensphäre nennen, übermäßige Aktivitäten in bestimmten Bereichen, vor allem massive Zugriffe auf Fachmediatheken, und das plötzliche Verschwinden vieler erstklassiger Netzwerk- und VR-Spezialisten von ihren Arbeitsplätzen. Ich begann, mir diese Vorfälle genauer anzuschauen. Auch Geldgeschäfte nahmen eigenartige Bahnen: Aktien wurden unerwartet abgestoßen, Firmen plötzlich liquidiert und andere gegründet. Ich entdeckte nach langwierigen Nachforschungen,
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