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Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten

Titel: Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Federn, Rüschen und lange spitze Stiefel verliehen diesem Neuankömmling die Silhouette eines altertümlichen höfischen Stutzers; eine eng anliegende schwarze Lederkapuze umschloß den ganzen Kopf des Fremden und ließ nur ein knochenweißes, sexuell undefinierbares Gesicht mit blutroten Lippen frei.
    Sieht aus wie jemand aus so ’ner gräßlichen Ganga Drone Band, entschied Renie.
    Atasco begrüßte die neu Hinzugekommenen. Bevor er damit fertig war, setzte sich die Erscheinung in Schwarz demonstrativ von den anderen ab und schlenderte zur hinteren Wand des Raumes, um die Wandmalereien in Augenschein zu nehmen. Atasco wies den anderen beiden Plätze an und kehrte zu Renie und ihren Freunden zurück.
    »Temilún ist Wissenschaft und Kunst in einem, denke ich«, fuhr er fort, als ob es die Unterbrechung gar nicht gegeben hätte. »Es ist mein Lebenswerk. Es hat mich schon immer beschäftigt, was aus meiner Heimat geworden wäre, wenn die Spanier sie nicht erobert hätten. Als mir klar wurde, daß es nur eine Frage des Geldes war, die Antwort darauf zu finden, zögerte ich nicht. Ich habe keine Kinder. Meine Frau lebt für denselben Traum. Habt ihr sie schon kennengelernt?«
    Renie schüttelte den Kopf. Sie hatte Mühe mitzukommen. »Deine Frau? Nein.«
    »Sie ist irgendwo hier in der Nähe. Sie hat ein sagenhaftes Talent für Zahlen. Ich kann ein Muster erkennen, eine Hypothese dazu aufstellen, aber sie ist diejenige, die mir die harten Fakten sagt, wie viele Bushel Reis auf dem Temilúner Markt verkauft wurden oder wie die Dürre sich auf die Stadtflucht der Bevölkerung auswirken wird.«
    Renie hätte sich eigentlich gern abgewendet und mit den anderen Gästen geredet – sofern »Gäste« das richtige Wort war –, aber sie hatte mit einer gewissen Verspätung begriffen, daß sie trotz all seiner Exzentrizität auch von Atasco Sachen erfahren konnte. »Du hast also eine ganze Welt geschaffen? Ich hätte nicht gedacht, daß dazu alle Prozessoren im Universum ausreichen würden, ganz egal, was für eine phantastische neue Netzwerkarchitektur man hat.«
    Er hob die Hand zum Zeichen, daß er gnädig geruhte, etwas auszuführen, was sich eigentlich von selbst verstehen sollte. »Ich habe nicht die ganze Welt erschaffen. Was hier existiert«, er breitete seine Arme aus, »ist vielmehr das Zentrum einer größeren Welt, die es nur in Datenform gibt. Die Azteken, die Tolteken, sie waren nur Information, die Temilún in seinem Wachstum beeinflußte, obwohl es eine Zeitlang richtige aztekische Oberherren hier gab.« Er wiegte den Kopf, als schwelgte er in angenehmen Erinnerungen. »Sogar die Muiscas, die auf dem Höhepunkt ihres Reiches diese Stadt erbauten, existierten weitgehend außerhalb der Grenzen dieser Simulation – ihre Hauptstadt und größte Metropole war Bogota, genau wie in der wirklichen Welt.« Er schien den Ausdruck allgemeiner Verwirrung in Renies Gesicht auf etwas Bestimmtes zu beziehen. »Die Muiscas? Du kennst sie vielleicht als Chibchas, aber das ist eigentlich der Name der Sprachfamilie, nicht des Volkes. Nein?« Er seufzte – ein Töpfer, der gezwungen war, mit mangelhaftem Ton zu arbeiten. »Auf jeden Fall befinden sich nicht ganz zwei Millionen humanoide Instrumente in dieser Simulation, und die übrige Welt, die Temilún umgibt, ist lediglich ein extrem kompliziertes System von Algorithmen ohne telemorphe Darstellung.« Er legte leicht die Stirn in Falten. »Ihr sagtet, ihr wärt aus Aracatacá gekommen, nicht wahr? Das zum Beispiel liegt sehr nahe an der Nordgrenze der Welt, könnte man sagen. Natürlich würde man den Rand der Simulation nicht sehen – so primitiv ist sie nicht! Man würde das Wasser sehen und jenseits davon die Illusion eines Stücks Land.«
    »Demnach besteht dieses ganze Netzwerk – dieses Otherland – aus solchen Orten?« fragte Martine. »Aus den Träumen und Eitelkeiten reicher Männer?«
    Atasco schien an der Frage keinen Anstoß zu nehmen. »Ich nehme es an, obwohl ich mich nicht sehr oft aus meinen eigenen Gefilden hinausbegeben habe – was wohl nicht verwunderlich ist, wenn man bedenkt, wie viel Blut und Schweiß von mir in dieses Projekt geflossen ist. Einige der anderen Bereiche sind … nun ja, ich persönlich finde sie geschmacklos, aber wie unsere Wohnungen Bastionen des Privatlebens sein sollten, so wohl auch unsere Welten. Ich wäre sehr ungehalten, wenn jemand herkäme und mir erzählen wollte, wie ich Temilún zu führen hätte.«
    Renie beobachtete den

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