Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
kleinere Schwestern lugten mit großen Augen hinter seinem Rücken hervor. Die Wohnung war dunkel bis auf das flimmernde Standlicht des Wandbildschirms. Verängstigt und auf eine Bestrafung gefaßt, konnte Eddie nur tonlos den Mund bewegen. Renie wartete nicht ab, bis ihm etwas zu sagen eingefallen war.
Stephen lag auf dem Wohnzimmerteppich leicht eingekrümmt auf der Seite, die Arme an die Brust gezogen. Sie zog die fadenscheinige Decke weg und schüttelte ihn, zuerst sanft, aber dann mit zunehmender Heftigkeit, und rief dabei seinen Namen. Sie rollte ihn auf den Rücken und erschrak über die Schlaffheit seiner Glieder. Ihre Hände wanderten von der schmalen Brust zu der Arterie unterm Kinn. Er atmete, aber langsam, und auch sein Herzschlag war deutlich spürbar, aber träge. Um die Lehrbefugnis zu erhalten, hatte sie auch einen Erstehilfekurs mitmachen müssen, doch außer daß man das Unfallopfer warmhalten und es beatmen sollte, konnte sie sich kaum noch an etwas erinnern. Die Beatmung brauchte Stephen nicht, jedenfalls soweit sie sehen konnte. Sie hob ihn an und hielt ihn fest, um ihm etwas zu geben, irgend etwas, was ihn vielleicht zurückholen konnte. Er kam ihr klein, aber schwer vor. Es war schon eine Weile her, seit er sich das letzte Mal so ungehemmt von ihr hatte drücken lassen. Bei dem fremden Gefühl seines Gewichts in ihren Armen wurde ihr plötzlich am ganzen Leib kalt.
»Was ist passiert, Eddie?« Ihr Herz fühlte sich an, als ob es schon seit Stunden zu schnell schlüge. »Habt ihr irgendwelche Drogen genommen? Euch Charge reingezogen?«
Stephens Freund schüttelte heftig den Kopf. »Wir haben nichts gemacht! Gar nichts!«
Sie holte tief Luft, bemühte sich um einen klaren Kopf. In dem silberblauen Licht sah die Wohnung mit den Spielsachen, Kleidungsstücken und ungespülten Töpfen und Tellern überall wie ein surreales Chaos aus: Nirgends gab es eine freie Fläche. »Was habt ihr gegessen? Hat Stephen irgendwas anderes gegessen als du?«
Eddie schüttelte wieder den Kopf. »Wir haben uns einfach was in die Welle geschoben.« Er deutete auf die Fertigkostschachteln, die natürlich immer noch auf dem Küchentresen standen.
Renie hielt ihre Wange dicht an Stephens Mund, um seinen Atem zu spüren. Als sie den Anhauch fühlte, warm und leicht süßlich, füllten sich ihre Augen mit Tränen. »Erzähl mir, was passiert ist. Alles. Verdammt nochmal, wo bleibt dieser Krankenwagen?«
Eddie zufolge hatten sie wirklich und wahrhaftig nichts Besonderes gemacht. Seine Mutter sei zu ihrer Schwester gegangen und habe versprochen, bis Mitternacht wieder zuhause zu sein. Sie hätten sich ein paar Filme runtergeladen – die Sorte, die Renie Stephen zuhause nicht gucken ließ, aber nichts derart Gräßliches, daß sie an einen physischen Effekt glauben konnte – und sich etwas zu essen gemacht. Nachdem sie Eddies Schwestern zu Bett geschickt hatten, hätten sie noch eine Weile zusammengesessen und geredet und seien dann ihrerseits zu Bett gegangen.
»… Aber ich bin wach geworden. Ich weiß nicht wovon. Stephen war nicht da. Ich dachte einfach, er ist aufs Klo oder so, aber er ist nicht wiedergekommen. Und irgendwie hat’s so komisch gerochen, daß ich Angst hatte, wir hätten die Welle angelassen oder so. Da bin ich rübergegangen …« Seine Stimme versagte. Er schluckte. »Er lag einfach so da…«
Es klopfte an der unverriegelten Tür, und sie flog auf. Zwei Sanitäter in Jumpsuits kamen hereingestürmt wie ein Rollkommando und nahmen ihr Stephen brüsk ab. Sie empfand einen Widerwillen, ihn diesen Fremden zu überlassen, obwohl sie sie selber gerufen hatte; sie machte ihrer Anspannung und Angst ein wenig Luft, indem sie sie wissen ließ, was sie von ihrer Trödelei hielt. Sie ignorierten sie mit professioneller Geschäftigkeit, während sie rasch Stephens Lebensfunktionen durchcheckten. Aber ihre uhrwerkartig ablaufende Routineuntersuchung ergab auch nicht mehr, als was Renie bereits wußte: Stephen war am Leben, aber bewußtlos, und es gab keinerlei Hinweis darauf, was ihm zugestoßen war.
»Wir nehmen ihn mit ins Krankenhaus«, sagte einer von ihnen. Renie fand, es klang wie eine besondere Gunst.
»Ich komme mit.« Sie wollte Eddie und seine Schwestern nicht allein zurücklassen – wußte der Himmel, wann ihre nichtsnutzige Mutter aufkreuzen mochte –, deshalb rief sie abermals ein Taxi und schrieb hastig einen Zettel, um zu erklären, wo sie alle waren. Da ihr Vater bei dem Taxiunternehmen
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