Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten

Titel: Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
Vom Netzwerk:
Ungerechtigkeit, nur um den Frieden zu wahren. Ich denke, deine Sorge ist, daß das keine gute Lehre wäre.«
    »Richtig. Sein Volk – unser Volk – hat jahrzehntelang genau dagegen kämpfen müssen.« Renie zuckte wütend mit den Schultern und drückte die Zigarette aus. »Aber es ist mehr als bloß Politik. Ich will einfach nicht, daß er denkt, wer die Macht hat, hat das Recht, und wenn du selbst getreten wirst, dann ist es ganz in Ordnung, sich nach einem Schwächeren umzuschauen, den du treten kannst. Ich will nicht, daß er am Schluß so wird wie … wie sein …«
    !Xabbu hielt ihren Blick. Er sah so aus, als könnte er den Satz für sie beenden, aber tat es nicht.
    Nach einer langen Pause räusperte sich Renie. »Wir vergeuden hier bloß deine Stunde. Entschuldige bitte. Sollen wir nochmal das Flußdiagramm üben? Ich weiß, es ist langweilig, aber es gehört zu den Dingen, die du für die Prüfung unbedingt wissen mußt, auch wenn du alles andere noch so gut kannst.«
    !Xabbu zog fragend eine Braue hoch, doch sie ging nicht darauf ein.
     
     
    > !Xabbu stand an der Kante eines schroffen Felsvorsprungs. Die Bergwand stürzte unter ihm ins Bodenlose, ein geschwungener, glasglatter Steilabfall von glänzender Schwärze. In seiner offenen Hand lag eine altmodische Taschenuhr. Vor Renies Augen fing !Xabbu an, sie auseinanderzunehmen.
    »Geh weg von der Kante!« rief sie. Sah er denn die Gefahr nicht? »Steh nicht so dicht am Rand!«
    Mit zusammengekniffenen Augen blickte !Xabbu zu ihr auf und lächelte. »Ich muß herausfinden, wie sie funktioniert. Da ist ein Geist drin.«
    Bevor sie ihn ein weiteres Mal warnen konnte, zuckte er zusammen und hielt dann verwundert wie ein Kind seine Hand hoch; ein Blutstropfen, rund wie ein Edelstein, löste sich und lief ihm die Hand hinunter.
    »Sie hat mich gebissen«, sagte er. Er machte einen Schritt nach hinten und stürzte in den Abgrund.
    Renie starrte oben vom Rand in die Tiefe. !Xabbu war verschwunden. Sie schaute suchend nach unten, aber konnte nichts erkennen als Dunstschleier und langflügelige weiße Vögel, die langsam kreisten und klagende Laute ausstießen: ti-wiep, ti-wiep, ti-wiep …
     
    Mit hämmerndem Herzen erwachte sie aus ihrem Traum. Ihr Pad piepte nach ihr, leise, aber beharrlich. Sie tastete den Nachttisch danach ab. Auf der Digitalanzeige stand 2:27.
    »Annehmen.« Sie klappte den Bildschirm hoch.
    Sie brauchte einen Moment, um Stephens Freund Eddie zu erkennen. Er weinte, und die Tränen zeichneten eine silberne Spur über sein blau erleuchtetes Gesicht. Das Herz erfror ihr in der Brust.
    »Renie…?«
    »Wo ist Stephen?«
    »Er … er ist krank, Renie. Ich weiß nicht…«
    »Was meinst du mit ›krank‹? Wo ist deine Mama? Laß mich mit ihr reden.«
    »Sie ist nicht da.«
    »Himmel Herrgott…! Was hat er, Eddie? Antworte doch!«
    »Er wird einfach nicht wach. Ich weiß es nicht, Renie. Er ist krank.«
    Ihre Hände zitterten. »Bist du sicher? Er schläft nicht bloß ganz tief und fest?«
    Eddie schüttelte den Kopf. Er war verwirrt und verängstigt. »Ich bin aufgestanden. Er … er liegt einfach da auf dem Fußboden.«
    »Deck ihn mit irgendwas zu. Hol eine Decke. Ich bin gleich da. Sag deiner Mutter, wenn sie … Scheiße, vergiß es. Ich bin gleich da.«
    Sie forderte einen Krankenwagen an, gab ihnen Eddies Adresse und rief dann ein Taxi. Während sie fieberkalt vor Angst wartete, durchwühlte sie ihre Schreibtischschubladen nach Münzen, damit sie auch ja genug Geld bei sich hatte. Long Joseph hatte ihren Kredit bei dem Taxiunternehmen schon vor Monaten überzogen.
     
    Außer ein paar schwach erleuchteten Fenstern war vor Eddies Wohnblock keinerlei Lebenszeichen zu sehen – kein Krankenwagen, keine Polizei. Ein Stachel der Wut bohrte sich durch Renies Angst. Schon fünfunddreißig Minuten und noch immer niemand da. Das hatte man davon, wenn man in Pinetown wohnte. Dinge knirschten unter ihren Füßen, als sie auf den Hauseingang zueilte.
    Auf einem handgeschriebenen Schild war zu lesen, daß das elektronische Schloß an der Haupttür außer Betrieb sei; irgendwer hatte daraufhin den ganzen Schließmechanismus mit der Brechstange entfernt. Das Treppenhaus stank nach all den üblichen Sachen, aber es hatte auch einen verbrannten Geruch – schwach, aber scharf – wie von einem Brand vor langer Zeit. Renie rannte die Treppe hoch, immer zwei Stufen auf einmal, und rang nach Atem, als sie vor der Wohnungstür ankam. Eddie machte auf. Zwei

Weitere Kostenlose Bücher