Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
lautstark Ruhe. Ein paar andere unterstützten sie – darunter zu Orlandos Überraschung auch Sweet William. Binnen kurzem war es still im Raum.
»Ich weiß nicht wie, aber offenbar ist man uns auf die Spur gekommen.« Sellars gab sich alle Mühe, ruhig und gefaßt zu klingen, aber es gelang ihm nur schwer. »Die Insel – der Wohnsitz der Atascos in der wirklichen Welt – ist überfallen worden. Unsere Gastgeber sind beide tot.«
Die Person im Roboter ließ einen Schwall drastischer Goggleboyflüche vom Stapel. Jemand anders schrie vor Schreck auf. Orlando spürte ringsherum die Hysterie hochschlagen. Wenn er sich wie sein normales Thargor-Ich gefühlt hätte, wäre es jetzt an der Zeit gewesen, ein paar von diesen Säfteln ein bißchen Verstand und Selbstbeherrschung einzubleuen. Aber nicht nur fühlte er sich nicht wie Thargor, er war selber einigermaßen entsetzt.
Sellars suchte die Panik niederzuhalten. »Bitte. Denkt daran, der Überfall findet in Cartagena in Kolumbien statt – in der wirklichen Welt, nicht hier. Ihr seid nicht in unmittelbarer Gefahr. Aber wir dürfen uns nicht ausfindig machen lassen, sonst wird die Gefahr sehr, sehr real werden. Ich nehme an, daß dieser Anschlag das Werk der Gralsbruderschaft ist und daß diese Leute wissen, wonach sie suchen. Wenn dem so ist, bleiben uns nur wenige Minuten, bevor sie uns zu fassen haben.«
»Was sollen wir also tun?« Es war der Affe, dessen singsangartige Stimme ruhiger war als die aller anderen. »Wir haben kaum angefangen, über Anderland zu sprechen.«
»Anderland? Was soll dieses unsinnige Gewäsch?« schrie die Frau, die vorher auf Atasco losgegangen war. »Wir müssen hier raus! Wie kommen wir offline?« Wie geplagt von unsichtbaren Insekten fummelte sie an ihrem Nacken herum, aber konnte ganz offenbar ihre Neurokanüle nicht finden.
Der nächste Tumult brach aus, weil allem Anschein nach auch sonst niemand die Simulation verlassen konnte. »Ruhe!« Sellars erhob die Hände. »Wir haben kaum noch Zeit. Wenn eure Identitäten geschützt bleiben sollen, muß ich mich an die Arbeit machen. Ich kann nicht hierbleiben, und ihr genauso wenig. Temilún wird euch keine Zuflucht bieten – die Bruderschaft wird es in Stücke reißen. Ihr müßt fort und nach Anderland hinein. Ich werde zusehen, daß ihr verborgen bleibt, bis ihr einen Weg findet, das Netzwerk ganz zu verlassen.«
»Aber wie sollen wir denn fort, und sei es nur aus dieser Stadt?« Genau wie ihrem vierbeinigen Helfer gelang es Nofretete nicht schlecht, ihre Emotionen im Zaum zu halten, aber Orlando konnte hören, wie ihr die Zügel zu entgleiten drohten. »Dieses Temilún ist so groß wie ein kleines Land. Sollen wir bis zur Grenze laufen? Und wie kommt man hier überhaupt von einer Simulation zur andern?«
»Der Fluß ist die Grenze«, sagte Sellars, »aber er ist auch der Übergang von einer Simulation zur nächsten.« Er stockte einen Moment und dachte nach, dann beugte er sich über Atascos Sim, der leblos auf den Steinplatten lag. Als er sich wieder aufrichtete, hielt er etwas in der Hand. »Nehmt dies – es ist Atascos Siegelring. Unten im Hafen liegt, glaube ich, ein königliches Staatsschiff.«
»Das hab ich gesehen«, rief Orlando. »Es ist groß.«
»Denkt daran, Atasco ist hier der Gottkönig, der Herr und Gebieter. Wenn ihr es mit seinem Ring befehlt, werden sie euch auf den Fluß hinausfahren.« Sellars reichte Nofretete den Ring. Eine neue Welle lähmender, benebelnder Wärme rollte durch Orlandos Körper. Seine Augen fielen halb zu.
»Zur Abwechslung mal ’ne Flußpartie?« ereiferte sich Sweet William. »Was ist das für ein Film, Huckleberry Fickfackfinn? Wo sollen wir hinfahren? Du hast uns da reingeritten, du Irrer – wie willst du uns wieder rausholen?«
Sellars streckte beide Hände aus, so daß es mehr wie eine Segnung aussah als wie ein Appell, Ruhe zu bewahren. »Wir haben keine Zeit mehr zum Reden. Unsere Feinde sind schon dabei, die Abwehr zu durchlöchern, die ich aufgebaut habe. Es gibt viel, was ich euch noch sagen muß. Ich werde alles tun, um euch wiederzufinden.«
»Uns wiederfinden?« Fredericks trat einen Schritt vor. »Du wirst nicht wissen, wo wir sind?«
»Wir haben keine Zeit mehr!« Zum erstenmal wurde Sellars laut. »Ich muß los. Ich muß los!«
Orlando zwang sich, etwas zu sagen. »Gibt es irgendwas, womit wir diese Leute aufhalten können – oder wenigstens rausfinden, was sie treiben? Wir können nicht… nicht auf die Suche
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