Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
raus.«
Das Schreien legte sich, aber das aufgeregte Geplapper ging weiter. Orlando gab sich einen Ruck. »Wie denn? Du hast mir erzählt, wir könnten nicht offline gehen. Außerdem, hast du nicht gehört, was dieser Sellars gesagt hat?«
Fredericks schüttelte mit Nachdruck den Kopf. »Hab ich, aber es interessiert mich nicht. Komm.« Er zog Orlando am Arm, als es plötzlich still im Raum wurde. Über Fredericks’ Schulter hinweg sah Orlando, daß Atasco sich wieder bewegte.
»Ich hoffe, keiner von euch denkt daran abzuhauen.« Jemand steckte in dem Sim, aber es war nicht Atascos Stimme. »Ein Fluchtversuch wäre eine ausgesprochen dumme Idee.«
»O nein. O Gott«, stöhnte Fredericks. »Das ist doch … wir sind …«
Am oberen Ende des Tisches geschah etwas. Es geschah so schlagartig, daß Orlando es gar nicht richtig mitbekam, aber Atascos Frau verschwand aus seinem Blickfeld. »Ich fürchte, die Atascos mußten uns frühzeitig verlassen«, fuhr die neue Stimme mit einem hörbaren Gefallen an der eigenen Verruchtheit fort, das an einen Trickfilmbösewicht erinnerte. »Aber keine Bange. Wir denken uns was aus, um euch weiter gut zu unterhalten.«
Eine ganze Weile rührte sich niemand. Ein erschrockenes Raunen lief durch die Schar der Gäste, als Atasco – oder die Hülle, die Atasco vorher beherbergt hatte – sie einen nach dem anderen ins Auge faßte. »So, jetzt sagt mir schön eure Namen, und wenn ihr euch kooperativ zeigt, werde ich vielleicht gnädig sein.«
Die exotische Frau, die Orlando schon vorher aufgefallen war, die hochgewachsene mit der Hakennase, die er im stillen Nofretete getauft hatte, schrie: »Fahr zur Hölle!« Durch seinen Fiebernebel hindurch bewunderte Orlando ihren Mut. Mit ein klein wenig Phantasie konnte er sich das alles beinahe als ein besonders kompliziertes und ausgefallenes Spiel vorstellen. In dem Fall wäre Nofretete eindeutig die »Kriegerprinzessin«. Sie hatte sogar einen Famulus, falls der sprechende Affe zu ihr gehörte.
Und ich? Gibt es eine Kategorie »Sterbender Held«?
Fredericks hielt den Arm von Orlandos Sim so fest umklammert, daß er trotz der betäubenden Krankheit und der vermittelnden Apparatur den Schmerz tatsächlich fühlen konnte. Er versuchte abermals, den Griff seines Freundes abzuschütteln. Es war Zeit, sich zu erheben. Es war Zeit, auf den Füßen stehend im letzten Gefecht zu sterben. Thargor hätte auf die Art abgehen wollen, auch wenn er bloß eine imaginäre Figur war.
Orlando stand schwankend auf. Die Augen des falschen Atasco richteten sich auf ihn, doch plötzlich kippte der Kopf mit der Federkrone nach vorne, wie von einer unsichtbaren Keule getroffen. Der Gottkönig erstarrte abermals, dann stürzte er blitzartig zu Boden. Wieder erhob sich ein entsetzter Tumult unter den Gästen. Orlando tat ein paar benommene, taumelnde Schritte, dann nahm er sich zusammen und ging durch den Saal auf Nofretete und ihren Affenfreund zu. Er mußte sich an dem schwarzgekleideten Clown namens Sweet William vorbeischieben, der sich mit dem funkelnden Kampfrobotersim stritt. Sweet William warf Orlando einen verächtlichen Blick zu, als sie Schulter an Schulter stießen.
Dieser Spinner wäre genau der richtige für den Palast der Schatten, dachte Orlando. Mann, wahrscheinlich würden sie ihn dort zum Papst machen.
Als er bei Nofretete ankam, hatte Fredericks, der ganz deutlich inmitten dieses Irrsinns nicht alleingelassen werden wollte, ihn eingeholt. Die dunkelhäutige Frau kauerte neben der Frau, die geschrien hatte, hielt ihre Hand und versuchte sie zu beruhigen.
»Hast du eine Ahnung, was hier läuft?« fragte Orlando.
Nofretete schüttelte den Kopf. »Aber etwas ist offensichtlich schiefgegangen. Ich denke, wir müssen hier irgendwie raus.« Er war sich nicht sicher, aber er hatte das Gefühl, ihr Akzent hörte sich afrikanisch oder karibisch an.
»Endlich mal ein vernünftiges Wort!« sagte Fredericks grimmig. »Ich bin schon …«
Er wurde von einem überraschten Aufschrei unterbrochen. Alle drehten sich zur Eingangsseite um, wo der weiße Schemen von Sellars’ Sim wieder aufgetaucht war. Er streckte seine formlosen Hände in die Luft, und die Leute in seiner Nähe wichen ängstlich zurück.
»Bitte! Hört mir zu!« Zu Orlandos Erleichterung klang er ausgesprochen nach Sellars. »Bitte, wir haben nicht viel Zeit!«
Die Sims drängten sich vor und sprudelten sofort Fragen heraus. Nofretete schlug mit den Fäusten auf den Tisch und forderte
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