Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
Großartigkeit des Westlichen Palastes, durch dessen hohe Fenster ewiges Dämmerlicht schien. Vor ihm zu beiden Seiten des Tisches saßen die zwei Reihen von Tiergesichtern, die seine Mitarbeiter darstellten, die Götterneunheit. Aber wenn er einen tiefen, besinnlichen Atemzug im Westlichen Palast tat, verrichteten gleichzeitig seine tatsächlichen Lungen aus Fleisch und Blut, zusammen mit seinem übrigen Körper, ihre Arbeit in einer abgedichteten Überdruckkammer im höchsten Turm seines abgeschiedenen Anwesens in Louisiana. (Die Lungen wurden in ihrer Tätigkeit von einigen der besten medizinischen Gerätschaften unterstützt, die man sich mit Geld kaufen konnte, denn die Lungen des Gottes waren sehr, sehr alt, doch das war die Crux eines vollkommen anderen metaphysischen Problems.) Somit blieb wie immer die Frage bestehen: Wo war er, Felix Jongleur, der Beobachter, der weißglühende Punkt im Zentrum der Kerzenflamme?
In dem Maße, als sein fleischlicher Körper in der wirklichen Welt angesiedelt war, befand er sich im südlichsten Teil der Vereinigten Staaten. Aber geistig lebte er nahezu ausschließlich in virtuellen Welten, hauptsächlich in seiner Lieblingswelt, einem imaginären Ägypten mitsamt einem Pantheon von Göttern, deren Oberhaupt er war. Wo also befand er sich in Wahrheit? An den Ufern des Lake Borgne in Louisiana in einem neugotischen Phantasieschloß, errichtet auf trockengelegtem Sumpfland? In einem elektronischen Netzwerk in einem noch phantastischeren Schloß im mythischen Westen Ägyptens? Oder an noch einem anderen, schwieriger zu benennenden oder zu lokalisierenden Ort?
Jongleur unterdrückte ein leises Seufzen. An diesem Tag war ein solches Herumspintisieren ein Zeichen fast unverzeihlicher Schwäche. Er war ein wenig beklommen, obwohl das kaum verwunderlich war: Was in dieser Zusammenkunft geschah, würde Auswirkungen nicht nur auf das Ziel seines Lebens, sondern möglicherweise auf die Geschichte der Menschheit im ganzen haben. Das Gralsprojekt, einmal abgeschlossen, würde geradezu unglaublich weitgehende Konsequenzen haben, deshalb war es unerläßlich, daß er die Kontrolle behielt: Seine persönliche entschlossene Weitsicht war schon so lange bestimmend, daß das Projekt ohne ihn gut und gern zum Scheitern verurteilt sein konnte.
Er fragte sich, ob der Widerstand gegen seine lange Herrschaft über die Bruderschaft zum Teil vielleicht nichts weiter war als die Sucht nach Neuheit. Bei ihrem ganzen Reichtum und ihrer ungeheuren persönlichen Macht hatten die Mitglieder der Neunheit noch viele andere allzumenschliche Anfälligkeiten erkennen lassen, und es war schwer, die Geduld mit einem Projekt zu behalten, das sich schon über so viele Jahre hinzog.
Vielleicht hatte er ihnen in letzter Zeit nicht genug Schaueinlagen geboten.
Eine Bewegung weiter unten am Tisch riß ihn aus seinen Gedanken. Eine groteske Gestalt mit dem glänzenden Kopf eines Käfers erhob sich und hüstelte höflich. »Könnten wir vielleicht anfangen?«
Jongleur war wieder Osiris. Der Herr über Leben und Tod neigte sein Haupt.
»Zunächst einmal«, sagte der Käfermann, »ist es mir ein Vergnügen, abermals in eurer Gesellschaft zu sein – unter Gleichen.« Der runde braune Kopf drehte sich und beäugte die ganze Runde. Der Gott konnte sich kaum das Lachen über das bemühte Gehabe politischer Würde verkneifen, das durch die opaken Glupschaugen und die zitternden Mundwerkzeuge stark an Wirkung einbüßte. Osiris hatte Ricardo Klements Gottpersona sorgfältig ausgewählt: Der Käfer Chepri war ein Aspekt des Sonnengottes, aber dem zum Trotz war er immer noch ein Mistkäfer, ein Wesen, das sein Leben damit zubrachte, Bällchen aus Scheiße zu rollen, womit der Argentinier aufs trefflichste charakterisiert war. »Wir haben heute so viel zu diskutieren, daß ich keine Zeit mit überflüssigen Worten verschwenden möchte.« Klement wackelte mit dem Kopf wie ein Insekt hinter der Ladentheke aus einem Kinderbuch – ein besonders passender Vergleich, da sein riesiges Vermögen dem Schwarzmarkthandel mit Organen entstammte.
»Dann laß es.« Sachmet schob ihre Krallen heraus und kratzte sich geziert am Kinn. »Was hast du für ein Anliegen?«
Falls der Käfer erkennbare Gesichtszüge besessen hätte, wäre der Blick, den er ihr zuwarf, vielleicht wirkungsvoller gewesen. »Ich möchte den Vorsitzenden um einen Bericht über den Fortgang des Luftgottprojekts bitten.«
Osiris schluckte abermals ein Kichern
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