Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
den Leibgardisten mit dem höchsten Helm und dem längsten und leuchtendsten Federumhang zu, in dem er den Hauptmann vermutete. Er ging innerlich sein Mittlandvokubular nach Wörtern durch, die passend melodramatisch klangen.
»Unseren Anliegen ward nicht stattgegeben«, sagte er. »Der Große und Heilige in seiner Weisheit beschied uns, die Zeit sei noch nicht reif.« Er hoffte, er hörte sich enttäuscht und dabei doch geehrt an, daß ihnen überhaupt eine Audienz gewährt worden war. »Gesegnet sei er.«
Der Hauptmann der Leibgarde zog eine Augenbraue hoch. Mit flatternden Troddeln und Spitzen trat Sweet William vor, und die andere Braue des Hauptmanns ging ebenfalls nach oben, während Orlandos Herz sich in die Gegenrichtung bewegte. »Ja, gesegnet sei er«, sagte die schwarzgewandete Erscheinung mit einem ziemlich respektablen Versuch, demütig zu klingen. »Ehrlich gesagt, hat unsere bescheidene Gesandtschaft ihn verärgert, und wiewohl er seinen Zorn gütigst bezähmt hat, damit wir in unser Land zurückkehren und unseren Herren den Willen des Gottkönigs mitteilen können, ist sein Mißfallen über unsere Herren groß. Er läßt befehlen, ihn bis Sonnenuntergang nicht zu stören.«
Im Geiste kreuzte Orlando sich Sweet Williams Namen an. Der Bursche war flink und gewieft, wenn er wollte, das mußte man ihm lassen.
Der Hauptmann schien nicht restlos überzeugt zu sein. Er befingerte die steinerne Schneide einer Axt, die trotz aller Anzeichen modernerer Technik ringsherum durchaus keinen zeremoniellen Eindruck machte. »Aber es ist bereits Sonnenuntergang.«
»Ach«, sagte Sweet William, kurzfristig aus dem Konzept gebracht. »Sonnenuntergang.«
Orlando sprang ein. »Unsere Beherrschung eurer Sprache ist sehr mangelhaft. Zweifellos meinte der Gottkönig ›Sonnenaufgang‹. Auf jeden Fall wünschte er, nicht gestört zu werden.« Orlando beugte sich in schönster Verschwörermanier vor. »Unter uns gesagt, er war sehr, sehr ungehalten. Ich möchte nicht derjenige sein, der seine Gedanken unterbricht und ihn noch ungehaltener macht.«
Der Hauptmann nickte leicht, die Stirn weiter gerunzelt. Orlando schloß sich dem Ende der Schar an, das Sweet William bildete.
»Nicht schlecht, mein Lieber«, flüsterte William bühnenreif über die Schulter, als sie außer Hörweite waren. »Wir könnten zusammen auftreten – ›Die zwei Virtualos‹ oder so. Kannst du singen?«
»Geh weiter«, sagte Orlando.
Als sie die Rotunde direkt vor dem Ausgang erreicht hatten, eilte Orlando nach vorn. Die hochgewachsene Frau war deutlich verstimmt über das langsame Tempo ihrer behinderten Freundin, aber tat ihr Bestes, um eine würdevolle Haltung zu bewahren.
»Weißt du, wohin wir von hier aus gehen?« fragte Orlando flüsternd.
»Keine Ahnung.« Sie sah ihn kurz an. »Wie heißt du? Du hast es schon mal gesagt, aber ich hab’s vergessen.«
»Orlando. Und du?«
Sie zögerte, dann sagte sie: »Ach Gott, das ist jetzt auch schon egal. Renie.«
Orlando nickte. »Ich hab dich im stillen Nofretete genannt. Renie ist einfacher.«
Sie warf ihm einen befremdeten Blick zu, dann betrachtete sie ihre langfingerige Hand. »Ach so. Der Sim. Na klar.« Sie sah zu den riesigen Türflügeln auf, vor denen sie angekommen waren. »Und jetzt? Sollen wir uns einfach draußen vor der Tür umtun und fragen, wo der Hafen ist? Aber selbst wenn wir es erfahren, wie kommen wir dorthin? Ich weiß, daß es Busse gibt – ich bin in einem gefahren –, aber irgendwie kommt es mir verrückt vor, mit dem Bus ums Leben zu fliehen.«
Orlando drückte gegen die Tür, aber bekam sie nicht auf. Erst als Fredericks sich mit dagegenstemmte, schwang sie weit auf und gab den Blick auf eine mit Straßenlaternen gesäumte Allee frei, die vom Fuß der breiten Treppe ausging.
Orlando war schon ein wenig kurzatmig. »Mit dem Bus zu fliehen, wäre nicht das Verrückteste, was uns bis jetzt passiert ist«, sagte er.
»Und es wäre wahrscheinlich auch nicht das Schlimmste«, fügte Fredericks hinzu.
> Felix Jongleur, derzeit häufiger Osiris genannt, Herr über Leben und Tod, versuchte sich darüber klarzuwerden, wo er sich befand.
Seine Verwirrung war nicht die eines Menschen, dessen Bewußtsein getrübt war oder der sich verirrt hatte, sondern vielmehr ein ziemlich verzwicktes philosophisches Dilemma, denn sie betraf eine Frage, mit der er sich oft in Zeiten der Muße herumschlug.
Was er rings um sich herum erblickte, war die monumentale
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