Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
Hölle. Und wenn an seinem Ende keine Erlösung kam, dann war das Universum ein schrecklicher, schlechter Witz.
Zitternd und stöhnend, den Rücken gegen den wütenden Himmel gekehrt, kroch Paul weiter.
> Ein ungeheurer Schlag schmetterte ihn in den Schleim. Der Boden hob sich, verschlang ihn.
Während er sich wieder an die Luft arbeitete, hörte er das nächste gellende Pfeifen, und die Erde bäumte sich abermals auf. Zweihundert Meter weiter ließ der Einschlag einen mächtigen Schwall Schlamm aufschießen. Kleine Dinge zischten vorbei, und Paul schrie auf. Die Feldgeschütze hinter den deutschen Linien veranstalteten einen regelrechten Trommelwirbel und malten dabei einen Feuerbogen über den Horizont, der das weite Feld spitzer Schlammhöcker scharf hervortreten ließ. Wieder schlug eine Granate ein. Matsch flog durch die Luft. Eine brennende Kralle wischte ihm über den Rücken und riß Hemd und Haut auf, und Pauls Schrei stieg gegen den Donner auf und brach dann ab, als sein Gesicht wieder in den Schlamm fiel.
Einen Moment meinte er sicher zu sterben. Sein stotterndes Herz schlug so schnell, daß es sich fast verhaspelte. Er krümmte die Finger, bewegte den Arm. Es fühlte sich an, als ob jemand ihn aufgeschnitten und ihm eine Stricknadel ins Rückgrat gebohrt hätte, aber alles schien zu funktionieren. Er schleifte sich einen halben Meter vorwärts und erstarrte dann, als eine Granate hinter ihm niederkrachte und den nächsten großen Strudel aus Lehm und Leichenteilen in die Luft schleuderte. Er konnte sich bewegen. Er war am Leben.
Er rollte sich in einer Wasserpfütze zusammen und preßte sich die Hände an den Kopf, um das unerträgliche Brüllen der Geschütze zu dämpfen, das viel lauter war als vorher der Donner. Wie eine der über das Niemandsland verstreuten Leichen blieb er regungslos liegen, erfüllt von nichts anderem als blankem Entsetzen, und wartete, daß das Bombardement nachließ. Die Erde wackelte. Rotglühendes Schrapnell schwirrte über seinen Kopf hinweg. Die 28-cm-Geschosse aus den deutschen Haubitzen kamen in sturem Preßlufthammertakt geflogen – er fühlte, wie sie mit schwerem Tritt von einer Seite der britischen Schützengräben zur anderen marschierten und dabei Krater, Splitter und zerstäubtes Fleisch zurückließen.
Der ohrenbetäubende Lärm wollte nicht aufhören.
Es war aussichtslos. Der Beschuß würde niemals ein Ende nehmen. Dies war das Crescendo, das Finale, der Augenblick, in dem der Krieg zuletzt den Himmel selbst in Brand steckte und die Wolken blitzend und lodernd herabfielen wie brennende Vorhänge.
Hau ab oder stirb. Es gab hier keine Deckung, keine Versteckmöglichkeit. Paul wälzte sich abermals auf den Bauch und glitschte auf schwankendem Grund weiter. Hau ab oder stirb. Vor ihm fiel das Gelände in eine Senke ab, wo vor Jahren einmal, bevor der Granatenregen eingesetzt hatte, vielleicht ein Bach geflossen war. Unten in der Sohle lag eine Nebelzunge. Paul sah darin nur eine Tarnung, ein weißes Geschleier, das er über sich ziehen konnte wie eine Decke. Darunter würde er schlafen.
Schlafen.
Dieses eine Wort stieg in seiner zerschundenen Seele auf wie eine Flamme in einem dunklen Raum. Schlafen. Sich hinlegen und den Lärm abstellen, die Angst, die nicht enden wollende Not.
Schlafen.
Er erreichte die Kuppe des sanften Abhangs, dann stieß er sich über den Rand und rutschte hinab. All seine Sinne waren auf den kühlen weißen Nebel gerichtet, der auf dem Grund der Mulde lag. Während er durch die äußere Dunstschicht kroch, schien der Geschützdonner leiser zu werden, obwohl die Welt immer noch wackelte. Er robbte sich vor, bis der Nebel sich über seinem Kopf schloß und die über den Himmel schießenden roten Lichtpfeile verdeckte. Er war völlig in kühles Weiß gehüllt. Das Hämmern in seinem Kopf legte sich.
Er machte langsamer. Vor ihm tauchte aus dem Düstern ein Umriß auf – nein, mehrere dunkle, rechteckige Umrisse, die über den Hang verteilt lagen. Er schleifte sich weiter und versuchte mit seinen weit aufgerissenen und vor Schmutz brennenden Augen zu erkennen, was sie waren.
Särge. Der Hügel war mit Dutzenden von Särgen übersät, von denen manche aus dem klaffenden Schlamm ragten wie Schiffe, die durch eine Welle schnitten. Viele hatten ihre Insassen ausgespien: Bleiche Leichentücher wehten über den flachen Hang, als ob die Sargbesitzer ihrerseits vor dem Krieg auf der Flucht wären.
Die Geschütze dröhnten noch,
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