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Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten

Titel: Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Verachtung für französische Aussprache aus. »Sie ist zu jung für dich, altes Haus. Wird kaum mal eben bluten, das Luder.«
    »Herrgott, sei still.« Paul wandte sich angeekelt ab. Er griff nach seinen Stiefeln und stellte sie um, damit jede Seite den gleichen Anteil der spärlichen Wärme von dem Primuskocher erhielt.
    »Jonesie ist ein Romantiker«, wieherte Mullett. Er hatte Zähne, die zu seiner Nashornstatur paßten – flach, breit und gelb. »Weißt du nicht, daß jeder vom Siebten außer dir diese Madeleine schon gehabt hat?«
    »Ich hab gesagt, sei still, Mullett. Ich will nicht reden.«
    Der bullige Mann grinste und sank in den Schatten hinter Finch zurück, der sich Jonas zudrehte. In der Stimme des hageren Mannes lag mehr als nur ein bißchen Gereiztheit, als er sagte: »Warum legst du dich nicht einfach wieder schlafen, Jonesie? Mach keinen Stunk. Davon gibt’s hier eh schon genug.«
    Paul zog seinen Feldmantel aus und kroch ein Stück weiter den Graben hinunter, bis er einen Platz gefunden hatte, wo seine Füße eine bessere Chance hatten, nicht naß zu werden. Er wickelte den Mantel um seine nackten Zehen und lehnte sich an den Laufrost. Er wußte, daß er auf seine Kameraden – ach was, seine Freunde, die einzigen Freunde, die er hatte – nicht böse werden sollte, aber die Drohung eines letzten deutschen Verzweiflungsangriffs hing schon seit Tagen über ihren Köpfen. Bei dem ständigen Sperrfeuer, das sie mürbe machen sollte, der Befürchtung, es könnte noch schlimmer kommen, und den Träumen, die ihm keine Ruhe ließen … mein Gott, da war es kein Wunder, wenn ihm zumute war, als ob seine Nerven lichterloh brannten.
    Paul warf Finch einen verstohlenen Blick zu, aber der war schon wieder über seinen Brief gebeugt und blinzelte im trüben Laternenschein. Beruhigt kehrte er seinen Frontkameraden den Rücken zu und zog die grüne Feder aus der Tasche. Obwohl das Licht der Leuchtkugeln verblaßte, schien die Feder einen eigenen schwachen Glanz zu haben. Er hielt sie sich nahe ans Gesicht und atmete tief ein, aber wenn sie je einen Duft besessen hatte, so hatten die Gerüche von Tabak, Schweiß und Schlamm ihn inzwischen erstickt.
    Sie bedeutete etwas, diese Feder, auch wenn er nicht sagen konnte was. Er erinnerte sich nicht, sie aufgehoben zu haben, aber er trug sie seit Tagen in der Tasche. Irgendwie erinnerte sie ihn an den Engelstraum, aber er war sich nicht sicher, warum – vermutlich hatten sich die Träume eher an dem Besitz der Feder entzündet.
    Und die Träume selbst waren sehr merkwürdig. Er hatte nur noch Bruchstücke im Gedächtnis – die Engelsfrau und ihre eindringliche Stimme, irgendeine Maschine, die ihn töten wollte –, aber ihm war so, als wären selbst diese Bruchstücke kostbar, immaterielle Glücksbringer, auf die er keinesfalls verzichten konnte.
    Du klammerst dich an Strohhalme, Jonas, sagte er sich. An Federn. Er steckte das glänzende Etwas wieder in die Tasche. Sterbende denken an komische Sachen – und nichts anderes sind wir doch alle hier, oder? Sterbende?
    Er versuchte, den Gedanken wegzuwischen. Solche Grübeleien würden seinen gehetzten Herzschlag nicht verlangsamen und seine zitternden Muskeln nicht entspannen. Er schloß die Augen und begann die zähe Suche nach dem Weg, der ihn wieder in den Schlaf hinabführen würde. Irgendwo auf der anderen Seite des Niemandslandes donnerten erneut die Geschütze los.
     
     
    > Komm zu uns…
    Paul wachte von einem lauten Krachen auf, das den Himmel zerriß. Der Schweiß, der ihm auf Stirn und Wangen stand, wurde von einem Regenguß weggewaschen. Der Himmel flammte auf, und urplötzlich waren die Wolken weiß an den Rändern und brannten auf der Rückseite. Ein weiteres mächtiges Donnerrollen folgte. Es waren nicht die Geschütze. Es war überhaupt kein Angriff, sondern nur die Natur, die mit harter Hand Entsprechungen lieferte.
    Paul setzte sich auf. Zwei Meter weiter lag Finch wie ein Toter, den Feldmantel über Kopf und Schultern gezogen. Ein heller Blitz zeigte eine Reihe schlafender Gestalten hinter ihm.
    Komm zu uns … Die Traumstimme klang ihm noch in den Ohren. Er hatte sie wieder gefühlt – und so nahe! Ein Engel der Barmherzigkeit, der ihm ins Ohr flüsterte, der ihn rief… aber wohin? In den Himmel? War es das, ein Omen seines kommenden Todes?
    Paul hielt sich die Ohren zu, als der Donner wieder loskrachte, aber er konnte den Lärm nicht abstellen und den Schmerz in seinem Schädel nicht lindern. Er

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