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Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten

Titel: Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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aber sie klangen seltsam gedämpft. Paul stemmte sich in die Hocke, schaute sich um, und so etwas wie eine normale Wahrnehmung setzte wieder ein. Dies war ein Friedhof. Der weggeschwemmte Boden hatte eine alte Gräberstätte ans Licht gebracht, deren Kreuze schon vor langem zu Kleinholz zersplittert waren. Eine mittlerweile von Tod übersättigte Erde hatte die Toten ausgespuckt.
    Paul arbeitete sich tiefer in den Nebel vor. Diese Leichen waren jetzt genauso obdachlos wie die seiner Brüder droben, hundert tragische Geschichten, die im Getöse des Massensterbens ungehört verhallen würden. Hier hing über einem mit Schlamm bespritzten weißen Hochzeitskleid ein mumifizierter Schädel mit heruntergeklapptem Unterkiefer, so als ob seine Besitzerin den Bräutigam riefe, der sie am Altar des Todes alleingelassen hatte. Dicht daneben winkte eine kleine Skeletthand unter dem Deckel eines winzigen Sarges hervor – Baby hatte schön Aufwiedersehnsagen gelernt.
    Paul erstickte fast an seinem schluchzenden Gelächter.
    Der Tod war überall, in unabsehbarer Vielfalt. Dies war das Wunderland des Sensenmannes, der Privatpark des Dunklen. Ein lang hingestrecktes Skelett trug die Uniform einer früheren Armee, als ob es zum Appell kriechen wollte, um auch in diesem Kampf anzutreten. Ein verfaultes Leichentuch gab den Blick auf zwei gemeinsam eingewickelte mumifizierte Kinder frei, deren Münder runde Löcher waren, wie lobsingende Engel auf einer Kitschpostkarte sie hatten. Ob alt oder jung, groß oder klein waren die Zivilistenleichen in makabrer demokratischer Gleichheit zu den Ausländern dazugeworfen worden, die oben in Massen starben, und vermischten sich mit ihnen im Schlamm.
    Paul kämpfte sich weiter durch die neblige Gemeinde der Toten. Die Geräusche des Krieges wurden ferner, und das trieb ihn immer weiter vorwärts. Einen Ort finden, wo der Schlachtlärm nicht hindrang. Und dann schlafen.
    Ein Sarg am Rand des Bachbettes fiel ihm ins Auge. Dunkle Haare hingen heraus und wehten im Wind wie die Wedel einer Tiefseepflanze. Der Deckel war ab, und beim Näherkriechen sah er, daß das ins Leichentuch geschmiegte Gesicht der darin liegenden Frau merkwürdig unverwest wirkte. Irgend etwas an ihrem blutlosen Profil ließ ihn stocken.
    Er starrte sie an. Bebend näherte er sich dem Sarg, legte die Hände auf den schlammigen Kasten, um sich daran hochzustemmen. Seine Hand zog den zerfallenden Musselin weg.
    Es war sie. Sie. Der Engel seiner Träume. Tot in einer Kiste, eingehüllt in einen schmutzigen Schleier, für ihn für immer verloren. Seine Eingeweide krampften sich zusammen – einen Moment lang meinte er, er würde selbst hineinfallen, zu Nichts zergehen wie Stroh in der Flamme. Da schlug sie die Augen auf – schwarz, schwarz und leer –, und ihre bleichen Lippen bewegten sich.
    »Komm zu uns, Paul.«
    Er schrie auf und sprang in die Höhe, aber verfing sich mit dem Fuß am Sarggriff und stürzte wieder mit dem Gesicht zuerst in den Schlamm. Wild um sich schlagend wie ein verwundetes Tier floh er auf allen vieren durch den saugenden Matsch. Sie erhob sich nicht, um ihm zu folgen, aber ihre leise, rufende Stimme klang durch den Nebel hinter ihm her, bis ihm schwarz vor Augen wurde.
     
     
    > Er war an einem seltsamen Ort, seltsamer als alle, die er bis jetzt gesehen hatte. Ein Ort, der … nichts war. Die Wahrheit des Niemandslandes.
    Paul setzte sich mit einem merkwürdig tauben Gefühl auf. In seinem Kopf hallte immer noch der Schlachtlärm nach, aber ringsumher herrschte Stille. Er war von einer dicken Schlammschicht überkrustet, aber der Grund, auf dem er lag, war weder naß noch trocken, weder hart noch weich. Der Nebel, durch den er gekrochen war, war lichter geworden, aber in keiner Richtung sah er etwas anderes als perlweißes Nichts.
    Er stellte sich auf wacklige Beine. War er entkommen? Der tote Engel, die Gemeinde in den Särgen – waren sie der Wahntraum eines Kriegsopfers gewesen?
    Er tat einen Schritt, dann noch ein Dutzend. Alles blieb, wie es war. Er rechnete damit, jeden Moment erkennbare Umrisse durch den Nebel auftauchen zu sehen – Bäume, Felsen, Häuser –, aber die Leere schien mit ihm zu ziehen.
    Nach vielleicht einer Stunde fruchtlosen Herumirrens setzte er sich hin und weinte, weinte schwache Tränen der Erschöpfung und Verwirrung. War er tot? Was dies das Fegefeuer? Oder schlimmer noch – denn im Fegefeuer konnte man wenigstens hoffen, irgendwann geläutert entlassen zu werden –, war

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