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Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten

Titel: Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Niemandsland. Irgendwo wird eine Stelle kommen, wo du wieder ausbrechen kannst. Irgendwo. Bleib zwischen den Linien.
    Die Welt war nichts als Schlamm und Draht. Der Krieg im Himmel war nur ein müder Abklatsch des Schreckens, den die Menschen anrichten gelernt hatten.
     
     
    > Er wußte nicht mehr, wo oben war. Er hatte die Orientierung verloren.
    Paul fuhr sich übers Gesicht, um sich den Matsch aus den Augen zu wischen, aber der Matsch nahm kein Ende. Er schwamm förmlich darin. Es gab nichts Festes, worauf er sich stützen konnte, keinen Widerstand, der ihm sagte: Hier ist der Boden. Er war am Ertrinken.
    Er gab das Kämpfen auf und blieb liegen, die Hand vor dem Mund, um beim Atmen den Schlamm abzuhalten. Irgendwo weit links eröffnete ein Maschinengewehr das Feuer und bildete mit seinem kratzigen Knattern einen leisen Kontrapunkt zu dem Sturm und dem polternden Gewitter. Er neigte langsam den Kopf von einer Seite zur anderen, bis der Schwindel und die Wirrnis nachließen.
    Überleg. Überleg!
    Er war irgendwo im Niemandsland und versuchte, zwischen den Linien nach Süden zu kriechen. Das von Blitzen und Flammenstößen gezeichnete Dunkel – das war der Himmel. Das tiefere Dunkel, in dem nur die Spiegelungen im stehenden Wasser Licht abgaben, war die kriegsgepeinigte Erde. Er, Gefreiter Paul Jonas, Deserteur, Verräter, klammerte sich an dieses letztere Dunkel wie ein Floh an den Rücken eines sterbenden Hundes.
    Er lag auf dem Bauch. Soweit nichts Neues. Er lag schon seit ewigen Zeiten auf dem Bauch, oder etwa nicht?
    Mit Ellbogen und Händen im Schlamm wühlend, schob er sich vorwärts. Das jahrelange Bombardement hatte den Schlamm im Niemandsland zu einer Million Wellengipfel und -täler aufgequirlt, zu einem endlosen, starren, kackbraunen Meer. Unbeholfen und mechanisch krabbelte er jetzt schon stundenlang darin herum wie ein verletzter Käfer. Jede Zelle in seinem Körper schrie ihm zu, sich zu beeilen, das Weite zu suchen, sich aus diesem Nirgendwo hinauszuschleifen, diesem öden und toten Gelände, aber schneller zu machen war ausgeschlossen – wenn er sich erhob, setzte er sich damit den Augen und Geschützen auf beiden Seiten aus. Er konnte nur jämmerlich Zentimeter für Zentimeter zwischen Schrapnell und Gewitter vorwärtskriechen.
    Er bekam etwas Hartes unter die Finger. Im Blitzschein erkannte er den Totenkopf eines Pferdes, der durch den Schlamm stieß wie eine Ausgeburt ausgesäter Hydrazähne. Er riß die Hand zurück, die auf der Schnauze gelegen hatte, auf den steinernen Zähnen, die zwischen geschrumpften Lippen bleckten. Die Augen waren schon lange fort, die Höhlen voller Schlamm. Ein windschiefer Bretterverhau ragte dahinter aus der Erde, die Überreste der Munitionsprotze, die es gezogen hatte. Eine seltsame, nachgerade unmögliche Vorstellung, daß diese Hölle einst eine Landstraße gewesen war, ein ruhiger Teil eines ruhigen Frankreich. Ein Pferd wie dieses war dort mit einem Wagen hintendran dahingetrappelt und hatte einen Bauern zum Markt oder Milch oder Post zu den Dorfhäusern befördert. Als noch alles im Lot gewesen war. Denn alles war einmal im Lot gewesen. Er konnte sich nicht mehr richtig an eine solche Zeit erinnern, aber er konnte sich nicht gestatten, daran zu zweifeln. Alles in der Welt hatte seine Ordnung gehabt. Jetzt wurden Landstraßen, Häuser, Zugpferde, all die Dinge, die einst die Zivilisation von der vorrückenden Dunkelheit geschieden hatten, zu einem homogenen Urschleim vermahlen.
    Häuser, Pferde, Menschen. Die Vergangenheit, die Toten. Zwischen dem Aufflammen und dem Verlöschen der grellen Blitze sah er sich von entstellten Soldatenleichen umgeben – ob andere Tommies oder Deutsche war nicht zu sagen. Nationalität, Würde, Atem, alles war weggerissen worden. Wie ein mit Shillings gespickter Weihnachtspudding war der Schlamm mit bruchstückhaften Lebensresten durchsetzt – Arm- und Beinteile, von Granaten verbrannte Rumpfstücke mit Extremitäten, Stiefel mit Füßen drin, Uniformfetzen verklebt mit Hautstreifen. Auch vollständiger erhaltene Körper lagen unter dem Gestückel, von Bomben zerstört und weggeworfen wie Puppen, erst verschlungen von dem Ozean aus zähem Lehm und dann von dem peitschenden Regen wieder entblößt. Augen glotzten leer, Münder klafften; alle ertranken sie im Matsch. Und alles überall, ob es einst lebendig gewesen war oder nicht, hatte die gleiche scheußliche kotige Farbe.
    Es war der Sündenpfuhl. Es war der neunte Kreis der

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