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Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten

Titel: Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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das der Ort, an den man nach dem Tod kam, für immer und ewig?
    »Hilfe!« Nicht die Spur eines Echos – seine Stimme floh einfach davon, ohne wiederzutönen. »So hilf mir doch jemand!« Er schluchzte wieder. »Was habe ich denn getan?«
    Es kam keine Antwort. Paul rollte sich auf dem Ungrund zusammen und preßte sein Gesicht in die Hände.
    Warum hatten die Träume ihn an diesen Ort gebracht? Der Engel hatte sich ihm zugeneigt gezeigt, aber wie konnte Freundlichkeit zu so etwas führen? Es sei denn, der Tod eines Menschen wäre freundlich, aber das Leben danach absolut trostlos.
    Paul wollte, daß es vor seinen Augen dunkel blieb. Er konnte den Anblick des Nebels nicht mehr ertragen. Das blasse Gesicht des Engels erschien vor seinem inneren Auge, nicht kalt und leer wie eben auf dem verwüsteten Friedhof, sondern das lieblich traurige Antlitz, das schon so lange durch seine Träume geisterte.
    War vielleicht alles Wahnsinn? War er überhaupt hier an diesem Ort, oder lag sein Körper auf dem Grund des schlammigen Schützengrabens oder neben den anderen Gefallenen im Leichenzelt eines Feldlazaretts?
    Langsam, beinahe ohne sein bewußtes Zutun stahl sich seine Hand über seine verschlammte Uniformjacke. Als sie an die Brusttasche kam, wußte er plötzlich, was sie – was er selbst – suchte. Der Schreck ließ ihn innehalten, die Angst vor dem, was er entdecken konnte.
    Aber sonst ist mir nichts geblieben.
    Seine Hand schob sich in die Tasche und schloß sich darum. Als er die Augen aufmachte und sie an das trübe Licht holte, schimmerte und schillerte sie grünlich.
    Sie war wirklich.
    Während Paul die Feder in seiner Faust anstarrte, begann noch etwas anderes zu schimmern. Nicht weit entfernt – jedenfalls schien es an diesem unausdenkbaren Ort nicht weit entfernt zu sein – glomm ein Licht wie geschmolzenes Gold im Nebel. Ohne einen Gedanken an seine Müdigkeit und seine Wunden rappelte er sich auf.
    Etwas – eine Art Tür oder Loch – hob sich aus dem Dunst heraus. Er konnte in dem umgrenzten Feld nichts erkennen als ein wechselndes bernsteingelbes Licht, das sich wie Öl auf Wasser bewegte, und dennoch war ihm mit einer jähen, unerschütterlichen Gewißheit klar, daß auf der anderen Seite etwas war. Es führte irgendwo anders hin. Er trat auf das goldene Glühen zu.
    »Warum so eilig, Jonesie?«
    »Ja, du willst doch nicht etwa ausbüxen, ohne deinen Kameraden was davon zu sagen, oder?«
    Paul blieb stehen und drehte sich langsam um. Aus den Nebelschleiern kamen zwei Gestalten auf ihn zu, eine große und eine kleine. Auf einem der verschwommenen Gesichter sah er etwas blinken.
    »F-Finch? Mullett?«
    Der Große stieß einen Lacher aus. »Wir wollten dir zeigen, wo’s nach Hause geht.«
    Das Grauen, das sich verflüchtigt hatte, brach wieder über ihn herein. Er trat einen Schritt näher an das goldene Glühen heran.
    »Laß das!« sagte Finch scharf. Beim Weiterreden war sein Ton sanfter. »Komm schon, alter Junge, mach dir nicht noch mehr Scherereien. Wenn du schön artig mitkommst, dann lassen wir’s einfach ’ne Kriegsneurose sein. Vielleicht darfst du sogar ein Weilchen ins Lazarett, um wieder auf die Reihe zu kommen.«
    »Ich … ich will nicht mit zurück.«
    »Fahnenflucht, was?« Mullett kam näher. Er wirkte größer als vorher, unglaublich rund und merkwürdig muskelbepackt. Sein Mund ging nicht ganz zu, weil zu viele Zähne drin waren. »Oh, das ist sehr schlimm, sehr, sehr schlimm.«
    »Nimm Vernunft an, Jonesie.« Finchs Brillengläser reflektierten das Licht, so daß man seine Augen nicht sah. »Mach dir nicht alles kaputt. Wir sind deine Freunde. Wir wollen dir helfen.«
    Pauls Atem wurde hechelnd. Finchs Stimme schien an ihm zu ziehen. »Aber …«
    »Ich weiß, du hast Schlimmes durchgemacht«, sagte der kleine Mann. »Du bist durcheinander. Manchmal denkst du sogar, du wirst verrückt. Du brauchst einfach Ruhe. Schlaf. Wir werden uns um dich kümmern.«
    Er brauchte wirklich Ruhe. Finch hatte recht. Sie würden ihm helfen, klar würden sie das. Seine Freunde. Paul schwankte innerlich, aber wich nicht zurück, als sie näherkamen. Das goldene Glühen flackerte hinter ihm, wurde trüber.
    »So, und jetzt gibst du mir das Ding da in deiner Hand, alter Junge.« Finchs Stimme war einlullend, und Paul merkte, wie er ihm die Feder hinhielt. »So ist’s recht, gib es her.« Das goldene Licht wurde schwächer, und die Spiegelung auf Finchs Brillengläsern wurde ebenfalls schwächer, so daß

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