Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
würde hier sterben. Er hatte sich schon lange mit dieser gräßlichen Aussicht abgefunden – immerhin hätte er dann Frieden, Ruhe. Aber jetzt erkannte er plötzlich, daß der Tod nichts leichter machen würde. Etwas Schlimmeres wartete jenseits der Schwelle des Todes auf ihn, etwas viel Schlimmeres. Es hatte mit dem Engel zu tun, obwohl er nicht an etwas Böses von ihrer Seite glauben konnte.
Ein Zitteranfall schüttelte ihn. Etwas jenseits des Todes machte Jagd auf ihn – er konnte es beinahe sehen! Es hatte Augen und Zähne, und es würde ihn in seinen Bauch hinunterschlucken, wo ihm ein ewiges Zerreißen und Zermalmen bevorstand.
Das Grauen stieg ihm aus der Magengrube in die Kehle. Beim nächsten Blitzschlag riß er den Mund weit auf und verschluckte sich an dem hineinregnenden Wasser. Als er es ausgespuckt hatte, schrie er hilflos, doch seine Stimme ging in dem wilden Brüllen des Gewitters unter. Die Nacht, das Gewitter, die namenlosen Schrecken des Traumes und des Todes, alles stürzte auf ihn ein.
»Überleg dir mal, wie du rauskommst«, hatte eine Stimme in einem anderen halb vergessenen Traum ihn beschworen. »Wie du wirklich raus kommst.« Er klammerte sich an diese Erinnerung wie an etwas Warmes. In diesem Moment des Zusammenbruchs war sie sein einziger kohärenter Gedanke.
Paul richtete sich taumelnd auf und ging ein paar Schritte im Graben, weg vom Rest der Einheit, dann packte er die Sprossen der nächsten Leiter und kletterte hinauf, als wollte er sich ins feindliche Feuer stürzen.
Aber er floh vor dem Tod, eilte ihm nicht entgegen. Oben angekommen, zögerte er.
Fahnenflucht. Wenn seine Kameraden ihn erwischten, würden sie ihn erschießen. Er hatte es erlebt, hatte selbst gesehen, wie sie einen Rothaarigen aus Newcastle exekutierten, weil er sich geweigert hatte, sich einem Stoßtrupp anzuschließen. Der Junge war nicht älter als fünfzehn oder sechzehn gewesen, hatte vorher bei der Meldung als Kriegsfreiwilliger ein falsches Alter angegeben, und er hatte in einem fort um Verzeihung gefleht und geweint, bis die Kugeln des Exekutionskommandos in ihn einschlugen und ihn augenblicklich aus einem Menschen in einen auslaufenden Fleischsack verwandelten.
Der Wind heulte, und der Regen kam horizontal von der Seite, als Paul seinen Kopf über den Grabenrand schob. Sollten sie ihn doch erschießen, egal welche Seite, sollten sie ihn erschießen, wenn sie ihn kriegen konnten. Er war verrückt, so verrückt wie Lear. Das Gewitter hatte ihm den Verstand weggeblasen, und mit einem Mal fühlte er sich frei.
Wie du rauskommst…
Paul stolperte von der Leiter und fiel hin. Der Himmel loderte wieder auf. Große schlaffe Stacheldrahtrollen, die die Tommies vor deutschen Überraschungsangriffen schützen sollten, erstreckten sich vor ihm über die ganze Länge der Schützengräben. Dahinter lag das Niemandsland, und hinter diesem gespenstischen Streifen Land lag das dunkle Gegenstück zu den britischen Linien, so als ob man quer über die Westfront einen riesigen Spiegel aufgestellt hätte. Der Fritz hatte seinen eigenen Draht ausgelegt, um die Löcher zu schützen, in denen er in seiner vielgestalten Einerleiheit hockte.
Wohin? Welche von zwei so gut wie hoffnungslosen Alternativen wählen? Vorwärts über das wüste Land in einer Nacht, in der die deutschen Posten und Scharfschützen sich vielleicht hinter ihre Wälle verkrochen hatten, oder zurück durch die eigenen Linien ins freie Frankreich?
Das eingefleischte Grauen des Infanteristen vor der Leere zwischen den Heeren hätte beinahe den Ausschlag gegeben, aber der Wind war wild und sein Blut schien darauf zu antworten, eine ähnliche Freiheit von allen Fesseln zu fordern. Niemand würde damit rechnen, daß er nach vorn floh.
Gebückt wie ein Affe lief er blind durch den Regen, bis er sich einige hundert Meter von der Stellung seiner Einheit entfernt hatte. Als er sich vor der Absperrung hinkauerte und seine Drahtschere aus dem Gürtel zog, hörte er jemanden leise lachen. Er erstarrte vor Schreck, bis ihm klarwurde, daß der Lacher er selbst gewesen war.
Der lose Draht blieb an seinen Sachen hängen, als er sich hindurchschob, wie die schützende Dornenhecke um das Schloß einer schlafenden Prinzessin. Paul warf sich flach in den Schlamm, als der nächste grelle Blitz den Himmel weiß aufleuchten ließ. Der Donner folgte auf dem Fuße. Das Gewitter kam näher. Er kroch auf Händen und Knien vorwärts, den Kopf voller Getöse.
Bleib im
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