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Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten

Titel: Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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höher achte ich die Mysterien meines Volkes.«
    Ein Bus fuhr vor und spie eine Schar müde wirkender Fahrgäste aus, die auf dem Weg die Krankenhausauffahrt hinauf alle zu lahmen, zu schleichen oder zu humpeln schienen. Renie spähte mit zusammengekniffenen Augen, bis sie die Nummer des Busses lesen konnte. Es war nicht der richtige. Verärgert wandte sie sich ab. Sie fühlte sich gereizt, wie der Himmel vor einem Gewitter.
    »Wenn du damit sagen willst, die Wissenschaft sei nutzlos, dann kann ich dir leider nicht zustimmen … es sei denn, du meinst die Medizin. Wertlos bis dorthinaus.« Sie seufzte. »Nein, das ist nicht fair.«
    !Xabbu schüttelte den Kopf. »Das wollte ich gar nicht sagen, Renie. Es ist schwer auszudrücken. Vermutlich geht es mir so, daß ich das, was meine Leute schon wissen, um so höher achte, je mehr ich über die Entdeckungen von Wissenschaftlern lese. Sie sind nicht auf denselben Wegen zu diesen Einsichten gelangt, in geschlossenen Labors und mit Hilfe denkender Maschinen, aber eine Million Jahre Empirie hat durchaus etwas für sich – vor allem in den Sümpfen der Kalahari, wo ein Fehler nicht bloß ein verpatztes Experiment, sondern mit einiger Wahrscheinlichkeit den Tod bedeutet.«
    »Ich kann … von was für Einsichten redest du?«
    »Von der Weisheit unserer Eltern, Großeltern, Ahnen. In jedem individuellen Leben müssen wir, wie es scheint, diese Weisheit zuerst verwerfen, um sie später doch schätzen zu lernen.« Sein Lächeln kam wieder, doch es war klein und nachdenklich. »Wie gesagt, es ist schwer zu erklären … und du siehst müde aus, meine Freundin.«
    Renie setzte sich zurück. »Ich bin müde. Aber es gibt viel zu tun.« Sie rutschte ein wenig auf der Plastikbank herum, um eine bequemere Sitzhaltung zu finden. Wer diese Dinger herstellte, schien damit einen anderen Zweck zu verfolgen, als daß Leute sich darauf setzten: Welche Haltung man auch einnahm, richtig bequem saß man nie. Sie gab es auf, hockte sich auf den Rand und zog eine Zigarette heraus. Der Zündstreifen war defekt, und unlustig durchwühlte sie ihre Handtasche nach dem Feuerzeug. »Was hast du vorhin gesungen? Hatte es was mit einer Medizintrance zu tun?«
    »O nein.« Er wirkte leicht entrüstet, als ob sie ihn des Diebstahls bezichtigt hätte. »Nein, es war einfach ein Lied. Ein trauriges Lied, von einem Mann meines Volkes. Ich sang es, weil es mich unglücklich machte, deinen Bruder so fern von seiner Familie herumirren zu sehen.«
    »Erzähl mir was darüber.«
    !Xabbu ließ seine braunen Augen abermals über das Verkehrsgewühl schweifen. »Es ist ein Lied der Trauer über den Verlust eines Freundes. Außerdem handelt es vom Fadenspiel – kennst du es?«
    Renie hielt ihre Finger zu einem imaginären Fadenspannbild hoch. !Xabbu nickte.
    »Ich weiß nicht, ob ich den Text auf englisch genau wiedergeben kann. Ungefähr so:
     
Leute, bestimmte Leute waren es,
    Die mir den Faden zerrissen,
    Darum
    Ist mir dieser Ort jetzt verödet,
    Weil der Faden gerissen ist.
     
    Der Faden riß mir,
    Darum
    Ist mir dieser Ort nicht mehr,
    Wie er einst war,
    Weil der Faden gerissen ist.
     
    Dieser Ort ist mir,
    Als ob er offen stünde,
    Leer,
    Weil der Faden riß,
    Darum
    Ist dieser Ort jetzt freudlos,
    Weil der Faden gerissen ist.«
     
    Er verstummte.
    »Weil mir der Faden riß …«, wiederholte Renie. Die Verhaltenheit des Leids, die schlichte Art, es auszudrücken, ließ ihre eigenen Verlustgefühle hochschießen. Vier Wochen – ein ganzer Monat schon. Ihr kleiner Bruder schlief schon einen ganzen Monat, wie ein Toter. Ein Schluchzen schüttelte ihren Körper, und die Tränen brachen sich Bahn. Sie versuchte, den Kummer zurückzudrängen, aber er ließ sich nicht unterdrücken. Sie weinte noch heftiger. Sie versuchte zu sprechen, sich !Xabbu zu erklären, aber es ging nicht. Zu ihrer Beschämung und Bestürzung merkte sie, daß sie die Kontrolle verloren hatte, daß sie an einer öffentlichen Bushaltestelle saß und hemmungslos heulte. Sie fühlte sich nackt und gedemütigt.
    !Xabbu legte nicht den Arm um sie, redete ihr nicht zu, es wäre schon gut, es würde schon alles werden. Statt dessen setzte er sich neben sie auf die glatte Plastikbank. nahm ihre Hand und wartete, daß der Sturm sich legte.
    Er legte sich nicht so rasch. Jedesmal, wenn Renie dachte, er wäre vorbei, sie hätte ihre Gefühle wieder im Griff, wurde sie abermals vom Leid übermannt und ging das Weinen von vorne los. Durch die Tränen

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