Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
der Spitze war, würde er nicht anders handeln. Schwache Hunde wurden anderen, stärkeren Hunden zum Fraß vorgeworfen.
Hilflose Wut war nur hinderlich, schärfte er sich ein. Wer der Alte Mann in Wirklichkeit auch sein mochte, ihm nachzustellen wäre so, als wollte man die Hölle stürmen, um den Teufel mit Steinen zu bewerfen. Er war ein großes Tier in der Bruderschaft – vielleicht das größte, wenn Dread richtig sah. Er lebte wahrscheinlich umringt von schwerbewaffneten Leibwächtern in einer dieser bombensicheren unterirdischen Abschußrampen, die bei den Stinkreichen so beliebt waren, oder auf einer befestigten Insel wie ein Schurke aus einem billigen malaysischen Netzthriller.
Dread stieß sauer auf und spuckte abermals aus. Er mußte sich in Geduld üben. Fürs erste war Wut nur als ganz kontrolliert eingesetzter Treibstoff nützlich; es war viel leichter und schlauer, einfach weiter den Anordnungen des Alten Mannes zu folgen. Fürs erste. Irgendwann einmal kam dann der Tag, an dem der Schakal seinem Herrn an den Hals springen würde. Geduld. Geduld.
Er hob den Kopf, bis er sich im Spiegel betrachten konnte. Sauber, hart, unangetastet, so wollte er sich wieder sehen. Schon lange hatte ihn niemand mehr so zugerichtet, und alle, die es je getan hatten, waren tot. Nur die ersten paar waren schnell gestorben.
Geduld. Keine Fehler. Er beruhigte seinen Atem, richtete sich auf und streckte sich, um die schmerzenden Magenmuskeln zu entkrampfen. Er beugte sich vor – ein Zoom auf den Helden, der mit stumpfen dunklen Augen den Blick erwiderte, den Schmerz hinunterschluckte. Unaufhaltsam. Musik an. Klappe für den nächsten starken Auftritt.
Er starrte kurz auf die vollgekotzte Badewanne, bevor er das Wasser aufdrehte und das Ganze in einem braunen Strudel hinunterspülte. Wegschneiden – die ganze Badewannenszene wegschneiden. Völlig verpatzt. Unaufhaltsam.
Wenigstens sollte dieser neue Job RL sein. Er hatte die Kostümflausen dieser reichen Volltrottel satt, die Phantasien auslebten, für die sich der erbärmlichste Chargehead schämen würde, und das nur, weil sie es sich leisten konnten. Diese Aufgabe war mit wirklichen Risiken verbunden, und am Ende würde wirkliches Blut fließen. Das war immerhin seiner und seiner besonderen Fähigkeiten würdig.
Das Objekt allerdings … Er runzelte die Stirn. Trotz seines Angebots an den Alten Mann war er nicht versessen darauf, mitten in eine dieser Bruderschaftsfehden hineingezogen zu werden. Zu unvorhersehbar. Wie so ein Netzstück, das er mal in der Schule gesehen hatte, von lauter Königen und Königinnen, ihren Intrigen und Giftmorden. Dennoch hatten solche Sachen ihren verborgenen Nutzen. Sollten sie sich doch alle gegenseitig umbringen! Das brachte nur schneller den Tag herbei, an dem alles nach seinem Kommando laufen würde.
Er spülte sich noch einmal den Mund aus und ging dann zum Bett zurück. Er brauchte seine Musik – kein Wunder, daß er sich instabil fühlte. Der Soundtrack rückte alles in die richtige Perspektive, brachte Bewegung in die Story. Er zögerte, weil ihm die furchtbaren Schmerzen einfielen, die ihm die Implantate noch vor kurzem bereitet hatten, aber nur einen Moment. Er war Dread, das personifizierte Grauen, und wie sein Künstlername so auch seine Kunst. Seine. Kein alter Mann konnte ihm Angst machen.
Er rief die Musik auf. Sie kam schmerzlos, strenge Synkopen, leise Kongas und schleppender Baß. Er legte eine Reihe lang gehaltener Orgelakkorde darüber. Unheilschwanger, aber kühl. Denkmusik. Planmusik. Musik, die sagte: »Ihr kriegt mich nie.«
Im Moment mußte die Tiefgarage in der Innenstadt von Kriminalbeamten wimmeln, die Pulver streuten, scannten, Infrarotaufnahmen machten und sich fragten, warum das Verbrechen auf ihrer Überwachungsanlage nicht zu sehen war. Die alle herumstanden und die weißen und roten Fetzen untersuchten.
Arme Muschi. Und dabei hatte sie niemand an ihr Ding ranlassen wollen.
Wieder eine Tote, würde es heißen. Demnächst überall im Netz. Er sollte daran denken, sich ein paar der Berichte anzuschauen.
Dread lehnte sich an die kahle weiße Wand zurück, während die Musik ihn durchpulste. Zeit, was zu tun. Er rief die Mitteilung ab, die der alte Dreckskerl ihm geschickt hatte, und holte sich dann Bildmaterial dazu, zuerst Landkarten, dann LEOS-Scans und 3D-Pläne vom Zielbereich. Vor dem Hintergrund der anderen weißen Wand schwebten sie vor ihm in der Luft wie himmlische Visionen.
Alle seine
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