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Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten

Titel: Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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sie aus Angst, nur ja keine möglichen Fingerzeige zu verpassen, die Verstärkung der sensorischen Eingabewerte zu hoch eingestellt hatte. Eine Drehung des Handgelenks und ein angewinkelter Finger dämpften sie auf ein erträgliches Maß.
    Nachdem sie so lange gewartet hatten, daß Renie vor Ungeduld fast platzte, rückten sie schließlich an die Spitze der Schlange. Die Kontrolleurin war höflich und offenbar in keiner Weise daran interessiert, Schwierigkeiten zu machen. Sie schaute sich ihre falschen Personalien an und fragte, ob der unter den Angaben zur Person genannte Grund für ihren Besuch noch gültig sei.
    »Ja. Ich soll eine Installation überprüfen, zu der wir eine Beschwerde hatten.« Laut ihrer Tarnidentität arbeitete Renie für eine große nigerianische Softwarefirma und hatte !Xabbu als Praktikanten mit; sie hatte entdeckt, daß dieser Hersteller seine Personalunterlagen sehr schlampig führte.
    »Und wie viel Zeit wirst du benötigen, Herr Otepi?«
    Renie war überrascht – ein richtig freundlicher Ton! Umgängliches Verhalten war sie von Netzbürokraten nicht gewöhnt. Sie sah sich den lächelnden Sim genau an und fragte sich, ob sie vielleicht einen neuartigen hyperaktualisierten Kundendienstreplikanten vor sich hatte. »Schwer zu sagen. Wenn das Problem einfach ist, kann ich es selbst beheben, aber erstmal muß ich die ganze Anlage auf Herz und Nieren prüfen.«
    »Acht Stunden?«
    Acht! Sie kannte Leute, die für so eine lange Aufenthaltszeit im Inneren Distrikt mehrere Tausend Kredite bezahlen würden – überhaupt, wenn sie am Schluß noch Zeit übrig hatten, konnte sie vielleicht versuchen, einen davon ausfindig zu machen. Sie überlegte, ob sie noch mehr Zeit herausschinden sollte – vielleicht war dieser Rep kaputt, ein Spielautomat, der völlig unkontrolliert Zeit ausspuckte –, aber beschloß dann, ihr Glück nicht herauszufordern. »Das müßte reichen.«
    Einen Moment später waren sie drin und schwebten knapp über dem Boden der monumentalen Gateway, Plaza.
    »Es ist dir wahrscheinlich nicht klar«, sagte sie zu !Xabbu auf ihrem Privatband, »aber du bist gerade Zeuge eines Wunders geworden.«
    »Und das wäre?«
    »Ein Verwaltungssystem, das tatsächlich das tut, was es soll.«
    Er wandte sich ihr zu, und ein angedeutetes Lächeln hellte das Gesicht des Sims auf, den Renie für den Besuch besorgt hatte. »Nämlich zwei verkleidete Personen einlassen, die so tun, als ob sie ein legitimes Anliegen hätten?«
    »Niemand läßt sich gern veralbern«, erklärte sie und verließ dann das private Band. »Wir sind offiziell abgefertigt. Wir können jetzt überall hingehen, wo wir wollen, Privatknoten ausgenommen.«
    !Xabbu ließ seinen Blick über die Plaza schweifen. »Die Passanten hier kommen mir anders vor als in der Lambda Mall. Und die Konstruktionen sind extremer.«
    »Das liegt daran, daß wir näher am Zentrum der Macht sind. Die Leute hier machen, was sie wollen, weil sie es sich leisten können.« Ein Gedanke wirbelte in ihr auf wie ein Flöckchen heißer schwarzer Asche. »Es sind Leute, die sich alles erlauben können. Oder es jedenfalls meinen.« Stephen lag im Krankenhaus im Koma, während die Männer, die ihm das angetan hatten, sich ihrer Freiheit erfreuten. Ihr nie ganz erloschener Zorn flammte neu auf. »Komm, wir schauen uns mal in Toytown um.«
    Die Lullaby Lane war viel voller als bei ihrem letzten Abstecher, sie platzte fast vor virtuellen Körpern. Verwundert zog Renie !Xabbu in ein Seitengäßchen, um sich darüber klarzuwerden, was da vor sich ging.
    Die Menge strömte rufend und singend in einer Richtung an der Einmündung des Gäßchens vorbei. Es schien sich um eine Art Umzug zu handeln. Die Sims hatten die bizarrsten Formen, die man sich denken konnten, über- und unterdimensionierte Körper, zusätzliche Gliedmaßen, sogar unverbundene Körperteile, die sich bewegten, als wären sie eigenständig. Einige der ausgelassenen Zugteilnehmer veränderten sich vor ihren Augen: Eine lilahaarige, spitz zulaufende Figur hatte enorme Fledermausflügel, die sich in ein feines Gespinst flatternder silberner Gaze auflösten. Viele formten sich alle paar Sekunden um, trieben neue Extremitäten, wechselten den Kopf, verliefen und verzogen sich in phantastische Formen wie heißes Wachs, das in kaltes Wasser gegossen wird.
    Willkommen in Toytown, dachte sie bei sich. Sieht aus, als wären wir rechtzeitig zur Jahreshauptversammlung der Hieronymus-Bosch-Gesellschaft

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