Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
gekommen.
Sie begab sich mit dem Buschmann auf Dachhöhe, von wo aus sie einen besseren Überblick hatten. Etliche in der Menge trugen leuchtende Transparente mit der Aufschrift »Freiheit!« oder hatten das Wort in feurigen Lettern über ihren Köpfen schweben; eine Gruppe hatte sich sogar in eine Reihe marschierender Buchstaben verwandelt, die zusammen das Wort »MUTANTENTAG« ergaben. Obwohl die Sims der meisten Umzügler ein sehr extremes Design hatten, waren sie auch ziemlich instabil. Einige zerfielen in einer gar nicht beabsichtigt wirkenden Art und Weise in unstrukturierte Flächen und Linien. Andere flackerten in der Bewegung und verschwanden gelegentlich völlig.
Selbst programmiert, entschied sie. Billiges Zeug Marke Eigenbau. »Eine Protestdemonstration, nehme ich an«, erklärte sie !Xabbu .
»Gegen wen oder was?« Er hing neben ihr in der Luft, eine Comicfigur mit einem ernsten Ausdruck im simplen Gesicht.
»Gegen die Bekörperungsbestimmungen, würde ich vermuten. Aber sehr groß kann ihr Leiden nicht sein, wenn sie sich den Aufenthalt hier überhaupt leisten können.« Sie schnaubte verächtlich. »Kinder von reichen Leuten, die sich beschweren, weil sie sich nicht schick zurechtmachen dürfen. Komm, wir gehen.«
Sie beamten sich an dem Umzug vorbei ans andere Ende der Lullaby Lane, wo die Straßen leer waren. Ohne die Ablenkung durch das Straßentheater fiel der heruntergekommene Zustand des Viertels sofort ins Auge. Viele der Netzknoten schienen seit ihrem letzten Besuch noch hinfälliger geworden zu sein; zu beiden Seiten war die Straße mit skelettierten, farblosen Gebäuden gesäumt.
Die schwungvollen Töne einer fernen Musik lenkten ihre Aufmerksamkeit schließlich auf ein grelles Leuchten am anderen Ende der Straße. In so einer trostlosen Umgebung wirkte die wilde, pulsierende Lebendigkeit von Mister J’s noch unheimlicher.
!Xabbu starrte den neugotischen Monsterbau mit den vielen Türmchen und dem riesigen gefräßigen Grinsen an. »Das ist es also.«
»Geh auf privat«, zischte Renie. »Und bleib drauf, solange du niemand anders eine Frage beantworten mußt. Sobald du mit Antworten fertig bist, gehst du wieder zurück. Wenn du deswegen langsam reagierst, braucht dich das nicht zu beunruhigen – ich bin sicher, sie haben dort reichlich mit Leuten zu tun, deren Reflexe nicht besonders prompt sind.«
Sie schwebten langsam näher und betrachteten die schillernde und wackelnde Clubfassade.
»Warum sind keine Leute in der Nähe?« fragte !Xabbu .
»Weil dies hier kein Teil des Inneren Distrikts ist, der Schaulustige anzieht. Wer zu Mister J’s will, beamt sich wahrscheinlich direkt hinein. Bist du bereit?«
»Ich glaube ja. Und du?«
Renie zögerte. Die Frage hörte sich schnippisch an, aber das war nicht die Art des Buschmanns. Sie merkte, daß ihre Nerven zum Zerreißen gespannt waren. Sie holte mehrmals tief Atem, zwang sich zur Ruhe. Der zähnefletschende Mund über dem Eingang verzog die roten Lippen, als flüsterte er eine Verheißung. »Mister Jingo’s Smile« hatte dieser Laden ursprünglich geheißen. Warum hatte man den Namen geändert, aber diese gräßliche Grimasse beibehalten?
»Es ist ein unguter Ort«, sagte !Xabbu unvermittelt.
»Ich weiß. Vergiß das keine Sekunde.«
Sie spreizte die Finger. Augenblicklich befanden sie sich in einem düsteren Vorraum, der statt Wänden goldgerahmte Jahrmarktsspiegel hatte. Ein prüfender Blick ringsherum sagte Renie, daß die kleine Verzögerung zwischen Einleitung und Ausführung eines Vorgangs, die komplexe VR-Environments kennzeichnete, hier sehr kurz war, eine recht passable Nachahmung des wirklichen Lebens. Die Detailarbeit war ebenfalls eindrucksvoll. Sie waren zwar im Vorraum allein, nicht aber in den Spiegeln: Tausend ausgelassene Geister umringten sie, Gestalten von Männern und Frauen, darunter einige mehr Tier als Mensch, die um die verzerrten Spiegelbilder ihrer beiden Sims herumtollten. Ihre Spiegelbilder schienen sich gut zu amüsieren.
»Willkommen in Mister J’s.« Die Stimme sprach englisch mit einer eigentümlichen Aussprache. In keinem der Spiegel war ein dazu passendes Bild zu sehen.
Renie drehte sich um. Dicht hinter ihnen stand ein großer, lächelnder, elegant gekleideter weißer Mann mit Handschuhen an den Händen. Er hob die Hände hoch, und die Spiegel verschwanden, so daß nur noch sie drei in einer einzigen, von unendlicher Schwärze umgebenen Lichtsäule standen. »Schön, daß ihr uns die Ehre
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