Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
komisch und betrunken werden.
»Bis ihr vom Rhythmus innerviert seid – famos!
Ganz groß!
Laßt alle los und amüsiert euch…«
Die Sängerin war nur ein Lichtpunkt inmitten des zyklopischen Saals und der irrwitzig in die Länge schießenden Musiker, aber trotzdem konnte Renie zeitweise gar nichts anderes wahrnehmen. Große schwarze Augen in einem blassen Gesicht verliehen der Frau geradezu das Aussehen eines Totenschädels. Ihr aufgebauschter weißer Haarschopf, der halb so hoch war wie sie, verband sich unter ihren Armen mit dem wallenden weißen Kleid, so daß sie den Eindruck eines exotischen Vogels machte.
»Kommt herein!
Sagt nicht nein!
Die Crème von Toytown lädt euch ein.
Wie’s gefällt,
Wird die Welt
Heut von uns auf den Kopf gestellt…«
Geschüttelt vom stampfenden Rhythmus schwankte die Sängerin hin und her wie ein Taube im böigen Wind. Die großen Augen waren jetzt geschlossen, aber allem Anschein nach nicht aus Verzückung: Renie hatte noch nie einen Menschen gesehen, der dermaßen gefangen wirkte, und dennoch glühte die Sängerin, brannte. Sie hätte eine Glühbirne sein können, die zu stark unter Strom stand und deren Glühfaden jeden Augenblick mit einem Knall durchbrennen konnte.
Langsam, beinahe unwillkürlich streckte Renie die Hand nach !Xabbu aus. Sie fand seine Hand und schloß ihre Finger darum. »Alles in Ordnung?«
»Es … es ist ziemlich überwältigend hier.«
»Allerdings. Wie wär’s… wie wär’s, wenn wir uns einen Moment hinsetzen?«
Sie führte ihn durch den Saal zu einem der Separées an der gegenüberliegenden Wand; im RL hätten sie dafür zu Fuß mehrere Minuten gebraucht, aber hier dauerte es nur Sekunden. Alle Musiker der Kapelle sangen, klatschten, johlten und stampften jetzt mit ihren mächtigen Füßen auf der schaukelnden Bühne herum; die Musik war so laut, daß es aussah, als würde das ganze gigantische Haus gleich einstürzen.
»Ganz gleich, wo ihr registriert seid,
Zeigt mal, daß ihr engagiert seid – und jetzt
Ergötzt
Euch, daß es fetzt, an Unregiertheit …«
Die Musik drehte weiter auf, und die Scheinwerfer rasten noch schneller, daß die zuckenden Strahlen sich kreuzten wie Florettklingen. Eine Trommelsalve erscholl, ein letztes Schmettern der Bläser, dann war die Kapelle fort. Ein hohler Chor von Buh- und Beifallsrufen hallte durch den gewaltigen Raum.
Renie und !Xabbu hatten sich kaum in die tiefen Samtpolster sinken lassen, als schon ein dicht über dem Boden schwebender Kellner vor ihnen auftauchte. Er trug einen chromfarbenen, hauteng sitzenden Smoking. Sein Simkörper schien einem antiken Fruchtbarkeitsgott nachgebildet zu sein.
»Naampp, ihr Glupschniks«, knarrte er. »Was darf’s sein?«
»Wir … wir können in diesen Sims nicht essen und trinken«, sagte Renie. »Hast du irgendwas anderes?«
Er warf ihr einen verständnisinnigen und leicht amüsierten Blick zu, schnippte mit den Fingern und verschwand. Eine Art Speisekarte aus leuchtenden Lettern blieb hinter ihm im Raum hängen wie ein lumineszierender Rückstand.
»Hier ist eine Liste mit der Überschrift ›Emotionen‹«, sagte !Xabbu verwundert. »›Kummer: schwach bis heftig‹, ›Glück: stille Zufriedenheit bis überschwengliche Freude‹. Erfüllung. Elend. Optimismus. Verzweiflung. Angenehme Überraschung. Wahnsinn …« Er sah Renie an. »Was ist das? Was soll das alles heißen?«
»Du kannst auf dem öffentlichen Band sprechen. Es wird niemand überraschen, daß dir das alles neu ist – mir übrigens auch. Denk dran, wir sind bloß zwei Hinterwäldler aus Nigeria auf Besuch in der virtuellen großen Stadt, um die Sehenswürdigkeiten zu bestaunen.« Sie schaltete um. »Ich nehme an, das sind die Empfindungen, die sie hier simulieren. Eddie … äh, unser Bekannter hat uns doch erzählt, sie könnten einem Sinneserfahrungen verschaffen, für die man eigentlich gar nicht die technischen Voraussetzungen hat. Oder sie behaupten es jedenfalls.«
»Was sollen wir jetzt tun?« Inmitten des riesengroßen Raumes wirkte der kleine Sim des Buschmanns noch kleiner, wie zusammengepreßt vom schieren Gewicht des Getöses und Gedränges. »Wo willst du hin?«
»Laß mich nachdenken.« Sie schaute auf die feurigen Lettern, die vor ihnen hingen: ein Vorhang von Wörtern, der wenig Privatsphäre und gar keinen Schutz bot. »Ich glaube, ich hätte es gern ein wenig leiser. Wenn wir es uns leisten können, heißt das.«
Es war immer
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