Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
gebt.« Seine Stimme stahl sich ganz nahe heran, als ob er ihr ins Ohr flüsterte. »Woher kommt ihr?«
»Aus Lagos«, sagte Renie ein wenig atemlos. Sie hoffte, daß ihre Stimme, die passend zu ihrer männlichen Deckidentität eine Oktave heruntergerechnet wurde, in seinen Ohren nicht so piepsig klang wie in ihren. »Wir … wir haben viel über dieses Etablissement gehört.«
Das Lächeln des Mannes wurde breiter. Er deutete eine Verbeugung an. »Wir sind stolz auf unseren weltweiten Ruf und freuen uns, Freunde aus Afrika bei uns begrüßen zu dürfen. Ihr seid natürlich volljährig?«
»Natürlich.« Noch während sie das sagte, wußte sie, daß digitale Finger ihre Tarnidentität abtasteten – aber nicht allzu genau: Der Nachweis, daß man der Pflicht genüge getan hatte, reichte für diesen Ort. »Ich möchte meinem Freund ein paar der Sehenswürdigkeiten des Inneren Distrikts zeigen – er ist zum erstenmal hier.«
»Wunderbar. Du hast ihn genau an die richtige Adresse gebracht.« Der gut gekleidete Mann beendete das ablenkende Geplauder, was bedeutete, daß ihre Angaben zur Person akzeptiert worden waren. Er machte eine schwungvolle Bewegung, und eine Tür öffnete sich in der Dunkelheit, ein rechteckiges Loch, dem rauchiges rotes Licht entquoll. Auch Lärm drang heraus – laute Musik, Gelächter, eine Sturzflut von Stimmen. »Viel Vergnügen«, sagte er. »Empfehlt uns weiter.« Dann war er fort, und sie glitten vorwärts in den blutroten Schein.
Die Musik umfing sie und zog sie hinein wie das Pseudopodium eines riesengroßen, aber unsichtbaren Energiewesens. Mit ihrem lauten Plärren hörte sie sich an wie der flotte Swing Jazz des vorigen Jahrhunderts, aber sie hatte seltsame Synkopen und Legatos, heimliche Rhythmen, die tief unter der Oberfläche pulsten wie der Herzschlag eines schleichenden Raubtiers. Sie war mitreißend: Renie merkte, daß sie schon mitsummte, bevor sie überhaupt den Text verstehen konnte, aber der ließ nicht lange auf sich warten.
»Spart euch alle Echauffiertheit!«
sang jemand eindringlich, während die Kapelle im Hintergrund quäkte und stampfte,
»Ein Lächeln bricht die Reserviertheit – charmant,
Rasant!
Schon übermannt euch Ungeniertheit…«
Der Saal war unglaublich riesig, ein gewaltiges, rot erleuchtetes Oktogon. Die Säulen in den Ecken, jede so breit wie ein Hochhaus, verloren sich hoch droben im Schatten; die vertikalen Lichterreihen, mit denen sie besetzt waren, rückten mit zunehmender Höhe immer dichter zusammen und verschmolzen schließlich zu durchgehenden Leuchtstreifen. Und dort, wo selbst diese Lichter den Blicken entschwanden, ganz oben in den unvorstellbaren Höhen der Decke, toste und knallte vor dem schwarzen Hintergrund ein endloses funkensprühendes Feuerwerk.
Scheinwerfer kreisten durch die rauchige Luft und malten flitzende Ellipsen aus hellerem Rot auf die samtigen Wände. Hunderte von Separées zogen sich zwischen den Säulen hin und füllten die von Stimmengewirr klingenden Galerien aus, die mindestens ein Dutzend Etagen hoch im Kreis herumliefen, bevor die treibenden Rauchwolken das Zählen unmöglich machten. Ein fast endloser Pilzwald aus Tischen bedeckte den blitzenden Saalboden, und dazwischen rasten silbern gekleidete Figuren hin und her wie Bälle in einem Flipper – tausend Kellner und Kellnerinnen, zweitausend, mehr, die allesamt flink und reibungslos dahinflutschten wie Quecksilberperlen.
In der Mitte des ungeheuren Raumes stand die Kapelle auf einer Schwebebühne, die wie ein gekipptes Riesenrand funkelte und kreiste. Die Musiker trugen korrekte schwarzweiße Anzüge, aber ansonsten war nichts an ihnen korrekt. Sie hatten die spitz zulaufende Form und Zweidimensionalität von Karikaturen. Zum Schmettern der Musik waberten und verzogen sich ihre Gestalten wie verrückte Schatten; manche wuchsen empor, bis ihre rollenden Augen direkt in die höchsten Galerien lugten. Mächtige blitzende Hauer schnappten nach den Kunden, die sich unter Kreischen und Lachen eilig in Sicherheit brachten.
Nur die am äußersten Rand der kreisenden Bühne in einem hauchzarten weißen Kleid postierte Sängerin änderte ihre Größe nicht. Während die schattenhaften Musiker sie umwogten, glühte sie wie ein Stück Radium.
»Drum macht euch frei von Kleinkariertheit«,
sang sie mit rauher und doch einschmeichelnder Stimme, einem zittrigen Kratzen wie bei einem Kind, das lang aufbleiben und zusehen muß, wie die Erwachsenen
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