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Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten

Titel: Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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gearbeitet wird, nicht wahr?«
    Aber !Xabbu war nicht so leicht zu beschwichtigen. »Ich konnte nichts dagegen machen – deshalb schäme ich mich so. Ich wußte, daß es nicht wirklich war, Renie, so schnell vergesse ich deine Lektionen nicht. Aber als Kind erwischte mich einmal ein Krokodil, und ein anderes erwischte meinen Cousin. Ich riß mich los, weil es einen schwachen Biß hatte – die Narben am Oberarm und an der Schulter habe ich immer noch –, aber mein Cousin hatte weniger Glück. Als das Krokodil einige Tage später aufgespürt und getötet wurde, fanden wir ihn im Bauch, halb zersetzt und weiß wie Milch.«
    Renie schauderte. »Mach dir keine Vorwürfe. Herrje, ich wollte, das hättest du mir erzählt, bevor ich dich in das Becken jagte. In der Beziehung kann die VR tatsächlich Schaden anrichten, und das streitet auch niemand ab, dort nämlich, wo sie an Phobien oder Kindheitsängste rührt. Aber weil sie eine kontrollierte Umwelt darstellt, wird sie auch dazu benutzt, diese Ängste zu heilen.«
    »Ich fühle mich nicht geheilt«, sagte !Xabbu kläglich.
    »Nein, das wundert mich nicht.« Sie preßte seinen Arm abermals, dann stand sie auf. Ihr taten die Muskeln weh – allein von der Anspannung, vermutete sie. Und von den Knüffen, die !Xabbu ihr unabsichtlich versetzt hatte. »Komm jetzt. Wir haben schon eine gute Stunde unserer Zeit verpulvert und noch kaum was gesehen.«
    »Wo sind wir?« Auch er streckte sich und stand auf, doch ein plötzlicher Gedanke ließ ihn erstarren. »Müssen wir denselben Weg nehmen, wenn wir wieder hinaus wollen?«
    Renie lachte. »Ganz sicher nicht. Wenn wir wollen, können wir uns jederzeit ausschalten. Wir müssen nur den Befehl Ende geben, erinnerst du dich?«
    »Jetzt ja.«
    Der Gang sollte offenbar das Motiv des brodelnden Sees fortführen. Die Wände waren aus dem gleichen schwarzen Eruptivgestein, rauh anzufassen und trostlos anzuschauen. Ein ortloses rotes Licht überflutete alles.
    »Wir können ziellos herumirren«, bemerkte sie, »oder wir können es ein wenig methodischer angehen.« Sie hielt einen Augenblick inne, aber sah nichts, was sich anbot. »Optionen«, sagte sie laut und deutlich. Ein Gespinst aus brennenden Zeilen erschien auf der Wand neben ihnen. Sie studierte die Vorschläge, von denen viele recht unerfreulich klangen, und entschied sich dann für den neutralsten. »Treppe.«
    Der Gang flackerte und fiel dann vor ihnen ab wie Wasser, das in ein Abflußrohr stürzt. Sie standen auf einem Absatz in der Mitte einer breiten, geschwungenen Treppe, die über und unter ihnen weiterging, jede Stufe eine wuchtige Platte aus glänzendem schwarzen Stein. Einen Augenblick lang waren sie allein; dann flirrte die Luft, und sie waren von blassen Gestalten umringt.
    »Bei meinen Ahnen …«, hauchte !Xabbu .
    Hunderte von gespenstischen Erscheinungen bevölkerten die Treppe. Manche stapften müde dahin, viele davon unter schweren Säcken oder anderen Lasten, andere, unkörperlichere schwebten in Fetzen über die Stufen wie Nebelschleier. Renie sah ein buntes Gemisch alter Trachten aus vielen Kulturen und hörte ein babylonisches Geflüster in den verschiedensten Zungen, als ob diese Schatten einen Querschnitt durch die gesamte Menschheitsgeschichte darstellen sollten. Mit einer Geste stellte sie den Ton in ihren Kopfhörern lauter, aber verstehen konnte sie trotzdem keinen.
    »Noch mehr verlorene Seelen«, sagte sie. »Ich frage mich, ob jemand uns eine Botschaft zukommen lassen will. ›Die ihr hier eingeht, laßt die Hoffnung fahren‹, oder etwas in der Art.«
    !Xabbu fühlte sich sichtlich unwohl, als eine schöne Asiatin an ihm vorbeischwebte, die ihren weinenden Kopf behutsam zwischen den Stummeln ihrer Handgelenke hielt. »Was sollen wir jetzt tun?« fragte er.
    »Runtergehen.« Das erschien ihr offensichtlich. »Man muß erst runter, bevor man wieder rauskommt – so laufen diese Sachen immer.«
    »Aha.« !Xabbu drehte sich zu ihr um, das simulierte Gesicht zu einem plötzlichen Lächeln verzogen. »Eine solche Weisheit erwirbt man sich nicht so leicht, Renie. Ich bin beeindruckt.«
    Sie blickte ihn verständnislos an. Sie hatte die endlosen Verliesspiele gemeint, die sie als Netgirl gespielt hatte, aber sie war sich nicht ganz sicher, was er meinte. »Dann komm.«
    Sie war zunächst im Zweifel, ob nicht Widerstände auftreten oder wenigstens irgendwelche Szenarien ablaufen würden, aber harmlos wie gurrende Tauben strömten die Geister der Treppe nur

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