Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
erinnerte sich Renie – vollführte auf der Bühne einen ruckartigen Striptease im hektischen Takt der Musik. Renie wollte schon erleichtert aufatmen, daß hier etwas derart Altmodisches in seiner ganzen harmlosen Unflätigkeit geboten wurde, als sie erkannte, daß es keine Kleidungsstücke waren, aus denen sich die Frau pellte, sondern Haut. Ein Ballettröckchen aus durchscheinendem, papierdünnem, rotfleckigem Fleisch baumelte ihr bereits von den Hüften. Am schlimmsten war der Ausdruck jämmerlicher Schicksalsergebenheit auf dem schlaffen Gesicht der Frau – nein, des Sims, erinnerte sich Renie abermals.
Sie konnte nicht mehr hinschauen und sah sich wieder nach !Xabbu um. Sie erspähte seinen Scheitel hinter den Pavamanas, die hin und her wippten und sich gegenseitig knufften wie drei Slapstickkomödianten. Sie riskierte noch einen raschen Blick auf die Bühne, aber die sich windende Aktrice entblößte gerade die ersten zuckenden Muskelstränge über ihrem Bauch, so daß Renie ihre Aufmerksamkeit lieber der Menge zuwandte. Aber das änderte wenig an ihrer zunehmenden Beklemmung: Die Simuloidengesichter der Zuschauer bestanden nur aus großen seelenlosen Augen und weit aufgerissenen Mündern. Dies war in der Tat das Inferno.
Eine Bewegung am Rand ihres Gesichtsfeldes lenkte sie ab. Sie dachte, Strimbello habe sie beobachtet, aber als sie sich ihm zuwandte, schien er von der Vorführung gefesselt zu sein; sein Kopf nickte wie in zufriedenem Besitzerstolz, und die Winkel seines breiten, breiten Mundes deuteten ein starres Lächeln an. Hatte er irgendeinen Verdacht, daß sie und !Xabbu nicht das waren, was sie vorgaben? Wo sollte der herkommen? Sie hatten nichts Ungewöhnliches getan, und sie hatte sich mit ihren Tarnidentitäten große Mühe gegeben. Aber was er auch von ihnen halten mochte, in seiner Nähe war ihr furchtbar unbehaglich zumute. Wer oder was hinter diesen kleinen, harten Augen lebte, wäre jedenfalls ein sehr gefährlicher Feind.
Die hämmernde Musik erstarb. Als Renie sich wieder der Bühne zudrehte, verkündete ein Tusch den Abgang der Stripperin. Ein paar vereinzelte Klatscher begleiteten sie, als sie von der Bühne humpelte und dabei eine Schleppe aus zerfetztem, glänzendem Fleisch hinter sich herzog. Mit einem tiefen Brummton kündigte die Kapelle die nächste Nummer an.
Strimbello beugte seinen großen Kopf zu ihr hinüber. »Verstehst du Französisch, Herr Otepi? Hmmm? Was jetzt kommt, würde man als ›La Specialité de la Maison‹ bezeichnen – die Attraktion des Gelben Zimmers schlechthin.« Er legte abermals seine schwere Hand um ihren Arm und rüttelte sie leicht. »Du bist doch volljährig, oder?« Ein plötzliches Lachen entblößte breite, flache Zähne. »Aber natürlich bist du das! Nur ein kleiner Scherz von mir!«
Renie suchte !Xabbu , etwas dringender diesmal – sie mußten diesem Mann möglichst bald entkommen –, aber ihr Freund war hinter den drei Pavamanas verborgen, die sich einträchtig vorgebeugt hatten, um die Bühne gut im Blick zu haben, gespannte Erwartung auf ihren falschen Gesichtern.
Das tiefe Grollen des Musik ging in etwas Marschartiges über, und hereinspaziert kam eine Gruppe von Leuten, die mit einer Ausnahme alle dunkle Kutten mit übergezogenen Kapuzen anhatten. Die eine Person ohne Kapuze war zu Renies Überraschung die blasse Sängerin aus dem großen Saal. War sie es wirklich? Das Gesicht sah genauso aus, vor allem die großen, gehetzten Augen, aber die Haare dieser Frau waren eine üppige rostrote Lockenpracht, und sie wirkte auch größer und langgliedriger.
Bevor Renie zu einem Urteil kommen konnte, traten mehrere der vermummten Gestalten vor und packten die blasse Frau, die keinen Widerstand leistete. Eine Art Beben lief durch die Musik, und unter den brummenden Akkorden war auf einmal ein schneller werdender Rhythmus durchzuhören. Die Bühne zog sich in die Länge wie eine herausgestreckte Zunge. Die Wände und Tische und sogar die Gäste formierten sich ebenfalls neu und umflossen die Frau und ihre Begleiter, bis der Raum das merkwürdige Tableau umgab wie ein Krankenhaus-OP. Das anilingelbe Leuchten verglomm, bis alles im Schatten lag und das knochenweiße Gesicht der Frau die einzige Lichtquelle zu sein schien. Dann wurde ihr die Kutte heruntergerissen, und ihr bleicher Körper leuchtete auf wie eine jäh entzündete Flamme.
Renie holte scharf Luft. Rings umher hörte sie andere lauter und heftiger einatmen. Die junge Frau hatte
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