Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
strahlenden Kreisen bestand, jeder in einer anderen Farbe.
»Such eine aus«, sagte sie zu !Xabbu .
Er streckte die Hand aus, und der rote Ring leuchtete heller. Eine ruhige, geschlechtsneutrale Stimme raunte ihnen »Inferno und sonstige untere Räume« in die Ohren.
!Xabbu warf ihr einen Blick zu; trotz des plötzlichen unangenehmen Kribbelns im Nacken nickte sie. Das wäre in etwa der Ort, der Jungen wie Stephen anlocken würde. !Xabbu berührte den Ring noch einmal, und die ganze in Kreise unterteilte Fläche wurde glutrot, dehnte sich aus und floß schließlich über sie hinweg, so daß sie sich einen Moment lang in einem Tunnel aus dunkelrotem Licht befanden. Als es erlosch, waren sie immer noch unter Wasser, allerdings hatte es jetzt einen trüberen Ton. Renie dachte zuerst, das Gateway hätte nicht richtig funktioniert.
»Dort oben«, sagte !Xabbu und deutete in die Höhe. Hoch über ihnen stand ein weiterer Lichtkreis, diesmal eine einheitlich rote Scheibe, einer sinkenden Sonne ähnlich. »Genauso sieht der Himmel aus, wenn man tief unter Wasser ist.« Er hörte sich ein wenig atemlos an.
»Dann nichts wie hin.« Sie wunderte sich kurz darüber, wieso !Xabbu , ein Bewohner flacher Flußdeltaarme und Sümpfe, sich mit tiefem Wasser auskennen sollte, aber ließ es dann bewenden. Vielleicht war er in Durban im Freibad getaucht.
Sie stiegen auf das rote Licht zu, durch weitere Seetangwälder hindurch. Diesmal waren sie schwarz und dornig, büschelweise treibendes Wassergestrüpp, das ihnen manchmal die Sicht auf den Kreis völlig versperrte und sie in ein merkwürdiges unterseeisches Dämmerlicht tauchte. Das Wasser war wolkig, aufgewühlt von den dampfenden Schloten, die auf dem schroffen Tiefseeboden unter ihnen brodelten. Keinerlei Anzeichen ließ mehr erkennen, wo sie hergekommen waren, obwohl sie sicher war, daß so etwas wie Wegweiser zurück zum Becken in der Leisen Galerie erscheinen würden, wenn sie und !Xabbu umkehren sollten.
Sie betastete einen der stacheligen Tangriemen und staunte erneut darüber, wie es sein konnte, daß seine rauhe, gummiartige Oberfläche das Werk unkörperlicher Zahlen war und trotzdem bei der Übertragung an die Taktoren, die kraftreflektierenden Sensoren im Handschuh ihres Simsuits, den Eindruck greifbarer Existenz erweckte.
!Xabbu packte sie am Arm und riß sie zur Seite. »Da!« Er klang ehrlich entsetzt. Ihr Blick folgte seinem ausgestreckten Finger nach unten.
Etwas Riesenhaftes und Dunkles bewegte sich dort in der dampfenden Tiefe. Renie konnte vage erkennen, wie ein glatter Rücken und ein seltsam langgezogener Kopf, der für den Rumpf zu groß zu sein schien, in der Nähe der Stelle, wo sie eingetreten waren, über den felsigen Grund glitt. Das Wesen sah aus wie eine Kreuzung zwischen einem Hai und einem Krokodil, war aber viel größer als beide. Der lange, zylindrische Körper verlor sich gute zehn Meter hinter der spürenden Schnauze im Dunkeln.
»Es wittert uns!«
Sie nahm seine Hand und drückte sie. »Es ist nicht wirklich«, sagte sie mit Nachdruck, obwohl auch ihr Herz sehr schnell schlug. Das Ungetüm hatte aufgehört, die Schlote zu beschnüffeln, und stieg jetzt in weiten Kreisen gemächlich nach oben, so daß es zunächst einmal ihren Blicken entschwunden war. Sie schaltete auf das Privatband. » !Xabbu ! Fühlst du meine Hand? Das ist meine richtige Hand, in meinem Handschuh. Unsere Körper sind im Gurtraum hier in der TH. Denk dran.«
Die Augen von !Xabbus Sim waren zugepreßt. Renie hatte das schon öfter gesehen – eine erschreckende Erfahrung in einer erstklassigen Simulation konnte genauso stark wirken wie im richtigen Leben. Sie hielt die Hand ihres Freundes weiter fest und beschleunigte ihren Aufstieg.
Etwas Riesengroßes sauste über die Stelle, an der sie sich gerade noch befunden hatten, mächtig und schnell wie eine Magnetschwebebahn. Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Sie erhaschte einen kurzen Blick auf ein aufgerissenes Maul voller Zähne und ein funkelndes Auge von der Größe ihres Kopfes, dann zog der dunkle, glänzende Leib schier endlos unter ihnen dahin. Sie erhöhte das Tempo ihrer Aufwärtsbewegung, aber schimpfte sofort innerlich mit sich, weil sie genau das machte, wovor sie !Xabbu gewarnt hatte – nach der RL-Logik handeln. Spring einfach raus, du dumme Ziege! Das ist kein Wasser, du mußt gar nicht schwimmen. Ob Simulation oder nicht, willst du wirklich wissen, was passiert, wenn dieses Ding jemanden fängt?
Sie
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