Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
gestikulierte mit ihrer freien Hand, und die rote Scheibe expandierte rasant, so daß die Wasseroberfläche auf sie einzustürzen schien. Einen Sekundenbruchteil später schwammen sie auf einem weiten, unruhigen See inmitten eines Chaos aus Dampf und rotem Regen. !Xabbu , der immer noch völlig in der Erfahrung gefangen war, strampelte und schlug mit den Armen um sich, um über Wasser zu bleiben, doch in dem Moment bestimmten nicht seine eigenen Bewegungen, sondern Renies Kontrolle seine Position. Ein großer glänzender Buckel stieß durch die Oberfläche und kam rasch auf sie zu. Renie drückte abermals !Xabbus Hand und beförderte sie umgehend an das zweihundert Meter entfernte Ufer des Sees.
Aber es gab kein Ufer. Das rot erleuchtete Wasser spritzte gegen schwarze Basaltwände und floß dann unter Zischen und Brodeln in großen Massen nach oben an die mit Stalaktiten gespickte Decke, von wo es in einem unaufhörlichen dampfenden Regen wieder hinuntertriefte. Geblendet hingen Renie und !Xabbu am Rand des Sees fest und knallten heftig gegen grausam gut simulierten Stein.
Der Buckel stob wieder auf und stieg diesmal weiter, bis der Kopf hoch über dem wogenden Dampf aufragte und sich auf der Suche nach seiner Beute langhalsig hierhin und dorthin streckte. Völlig entgeistert ließ sich Renie einen Moment lang vom Wasser hin und her werfen. Was sie für einen gigantischen Körper gehalten hatte, war nur der Hals des Dings.
Der Kopf kam näher und warf dabei das Wasser auf wie ein Schwimmbagger. Der Leviathan, dachte sie unwillkürlich. Sie erinnerte sich, wie ihre Mutter früher aus der Bibel vorgelesen hatte, und verspürte jäh eine abergläubische Furcht, gefolgt von einem hysterischen Heiterkeitsanfall bei dem Gedanken, daß ein simples VR-Entertainment sie derart verblüffen konnte. Das Lachen verging ihr, als !Xabbus Hände sich um ihre Schultern und ihren Hals klammerten. Ihr Freund hatte panische Angst.
»Es ist nicht wirklich!« schrie sie gegen das Brüllen des brodelnden Wassers und das Schnaufen des herannahenden Ungetüms an, aber der Buschmann war seinem Entsetzen ohnmächtig ausgeliefert und hörte sie nicht. Der ungeheure Rachen klappte haushoch auf und kam durch den prasselnden Regen angeschossen. Renie dachte daran, sich und !Xabbu aus dem ganzen Abenteuer auszustöpseln, aber bis jetzt hatten sie noch nichts in Erfahrung gebracht. So beängstigend die ganze Sache war, für Kids wie Stephen war sie eine Art Jahrmarktsvergnügen – was ihm zum Verhängnis geworden war, konnte nichts derart leicht Durchschaubares sein.
An den Wänden der großen Höhle stürzten überall Katarakte nach oben, aber an Dutzenden von Stellen brach dunkelrotes Licht durch die Wassermassen, als ob dahinter offene Räume wären. Renie entschied sich aufs Geratewohl für eine und beförderte sie just in dem Moment dorthin, als der Kopf des Ungetüms zustieß und an der Stelle, wo sie eben noch getrieben waren, ins Leere schnappte.
Während sie auf die leuchtende Stelle zusausten, sah Renie, daß die Höhlenwände mit menschlichen Gestalten bedeckt waren, die sich mit aufgerissenen Mündern langsam unter den tosenden Wassern wanden, als ob sie mit dem Stein verwachsen wären. Finger stießen durch die Katarakte und krallten nach ihr. Die zur Decke strebenden Wasser schäumten von den greifenden Händen und liefen aufwärts wie fließende Juwelenketten.
Renie und !Xabbu spritzten durch einen Vorhang aus Wasser und fielen kopfüber auf einen steinernen Fußweg. Das enttäuschte Brüllen des Leviathans erschütterte die Wände.
»Inferno«, sagte Renie. »Sie machen Spielchen, weiter nichts. Das hier soll die Hölle sein.«
!Xabbu zitterte immer noch – sie spürte, wie seine Schulter unter ihrer Hand bebte –, aber er hatte aufgehört, um sich schlagen. Das Gesicht seines Sims war außerstande, die inneren Vorgänge auszudrücken, die sie dahinter vermutete.
»Ich schäme mich«, sagte er schließlich. »Ich habe mich unmöglich benommen.«
»Quatsch.« Ihre Antwort kam bewußt rasch. »Es hat sogar mir Angst gemacht, und ich mache dieses Zeug beruflich.« Das stimmte zwar nicht ganz – ganz wenige der VR-Environments, in die sie sich begab, hatten Attraktionen von einer derartigen Qualität –, aber sie wollte nicht, daß den kleinen Mann der Mut verließ. »Komm mit auf das andere Band. Diese Sache gibt dir eine gewisse Vorstellung davon, mit was für leistungsfähigen Programmen und Prozessoren hier
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