Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
ändern, beschrieb Strimbello dann, was danach geschehen war, und deutete auf die zwei arm- und beinlosen Gestalten, die mehrere Schritte hinter dem gepanzerten Phantom über die Stufen wurmten. Renie wurde schlecht.
Der dicke Mann hob seine breiten Arme hoch, die Handflächen nach oben gerichtet. Die ganze Gesellschaft schwenkte unversehens von der Treppe ab und um eine andere Biegung in der Höhlenwand, hinter der ein abrupter Abfall kam. Sie hingen über einer großen Leere, einem kilometertiefen Schacht. Die Treppe kreiselte davon und verschwand in dem trüben roten Licht weit unter ihnen.
»Zu langsam«, sagte Strimbello. »Und es gibt viel, so viel, was ihr noch sehen müßt.« Er machte wieder eine Handbewegung, und sie fielen. Renie spürte, wie ihr Magen alarmierend absackte – die Visualisierung war gut, aber doch gewiß nicht so gut? Aufgehängt in ihrem Gurtzeug, wo sie alles über die Sinnesapparaturen ihres ziemlich primitiven Sims erlebte, hätte sie diesen raschen Absturz eigentlich nicht derart … körperlich empfinden dürfen.
Neben ihr hatte !Xabbu die Arme ausgebreitet, wie um den Fall zu verlangsamen. Er wirkte leicht nervös, aber seine entschlossene Kinnhaltung beruhigte Renie. Der kleine Mann hielt sich wacker.
»Wir werden selbstverständlich sicher landen.« Strimbellos runder Kopf schien beinahe wie eine Signallampe zu blinken, während die dunklen und hellen Etagen im Wechsel vorbeizuckten. »Ich hoffe, du findest mich nicht überheblich, Herr… Otepi. Vielleicht sind dir solche virtuellen Erfahrungen schon geläufig.«
»Solche nicht«, entgegnete Renie wahrheitsgemäß.
Das Fallen hörte auf, aber sie hingen immer noch über einem abgrundtiefen Schacht in der Luft. Auf eine gebieterische Geste von Strimbello hin glitten sie seitwärts durchs Nichts und landeten auf einer der Etagen, die um die Grube herumliefen wie Theatergalerien. Die Brüder Pavamana grinsten und deuteten auf die Passanten. Ihre Münder bewegten sich lautlos, da sie sich auf ihrem Privatband unterhielten.
Überall auf dem gebogenen Wandelgang standen Türen offen, aus denen Lärm und Farben und der Klang vieler Stimmen und vieler Sprachen, Lachen, Kreischen und unverständliches rhythmisches Singen drangen. Sims ganz verschiedener Art – hauptsächlich männliche, mußte Renie feststellen, die wenigen weiblichen Gestalten gehörten vermutlich zum Unterhaltungsprogramm – gingen durch die Türen ein und aus und bewegten sich die Gänge hinunter, die von dem Schacht in der Mitte ausstrahlten. Manche waren so aufwendig bekörpert wie die Brüder Pavamana, aber viele besaßen nur die allerelementarsten Formen: klein, grau und beinahe gesichtslos wuselten sie zwischen ihren strahlenden Brüdern einher wie die bejammernswerten Verdammten.
Strimbello faßte Renie plötzlich am Arm. Seine mächtige Pranke übte einen derartigen Druck auf ihre Taktoren aus, daß sie sich vor Schmerz wand. »Kommt, kommt«, sagte er, »es wird Zeit, daß ihr etwas von dem zu sehen bekommt, weswegen ihr eigentlich hier seid. Vielleicht das Gelbe Zimmer?«
»O ja«, sagte einer der Pavamanas. Die anderen beiden nickten aufgeregt. »Darüber haben wir sehr viel gehört.«
»Es ist zu Recht berühmt«, sagte der Dicke. Er wandte sich Renie und !Xabbu mit einer Miene zu, die sein Simgesicht als Inbild der Verschmitztheit erscheinen ließ. »Und über die Kosten braucht ihr euch keine Gedanken zu machen, meine neuen Freunde. Ich bin hier gut bekannt und habe reichlich Kredit. Ja? Kommt ihr mit?«
Renie zögerte, dann nickte sie.
»So sei es.« Strimbello winkte, und der Wandelgang schien sich um sie herum zu schließen. Unmittelbar darauf befanden sie sich in einem langen, niedrigen Raum, der in verschiedenen unangenehmen ocker- und anilingelben Tönen erleuchtet war. Hämmernde Musik dröhnte Renie in den Ohren, ein monoton bummerndes Schlagzeug. Der dicke Mann hielt ihren Arm immer noch fest gepackt, so daß sie Mühe hatte, sich nach !Xabbu umzuschauen. Ihr Freund stand hinter den Pavamanas und blickte sich in dem dichtgedrängten Raum um.
Genauso buntgemischt wie auf dem Wandelgang saßen teure und billige Sims um die Tische des Gelben Zimmers herum, johlten ausgelassen zur Bühne hin, die ein Ende des Raumes einnahm, und trommelten mit den Fäusten, bis die virtuellen Gläser herunterfielen und am Boden zerschellten. Das gallige Licht verlieh ihren Gesichtern ein fiebriges Aussehen. Eine Frau – oder was wie eine Frau aussah,
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