Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
Gurtsessel zu achten. Die Lebensmittel standen noch im Beutel auf dem Küchentresen. Mischa, der sehr auf einem festen Tagesablauf beharrte, wartete zu ihren Füßen. Sie seufzte und leerte eine Futterpackung in seinen Napf.
Wenn einem die Ärzte nicht glaubten, was dann? Sie hatte natürlich angefangen herumzutelefonieren, Erkundigungen bei verschiedenen anderen ärztlich und sonstwie heilerisch Tätigen sowie beim Berufsverband für Interaktiv-Darsteller einzuziehen. Sie hatte Roland McDaniel gebeten, befreundete Darsteller im Ruhestand zu fragen, ob ihnen je etwas Ähnliches widerfahren sei. Sie hatte sich sogar über ihr eigenes Verbot, in ihrer freien Zeit das Netz zu benutzen, hinweggesetzt und begonnen, Artikel und Monographien über netzbedingte gesundheitliche Störungen durchzuschauen. Ein netter junger Mann in der Neurobiologie der McGill-Universität hatte ihr auf ihre Fragen hin eine Liste mit einer ganzen Palette neuer Möglichkeiten geschickt, anscheinend entlegene Spezialfächer, die für ihr Problem unter Umständen von Belang sein konnten. Bis jetzt hatte sich nichts als brauchbar erwiesen.
Während Mischa über seinem Freßnapf kleine Schnorcheltöne machte, legte sie sich auf die Couch. Ihr Spezialsitz, über und über mit Kabeln behängt wie ein elektrischer Stuhl, stand da wie ein stummer Vorwurf. Sie mußte mehr Nachforschungen anstellen, viel mehr. Aber sie war so müde.
Vielleicht hatten sie alle recht. Vielleicht war es die Arbeit. Vielleicht wäre ein langer Urlaub genau das, was sie brauchte.
Sie grunzte, setzte ihre Beine mit einem Schwung von der Couch auf den Boden und stand auf. An Tagen wie diesen fühlte sie ihr Alter, jedes einzelne Jahr. Sie schritt langsam zum Sessel, bestieg ihn und schloß sich an. Augenblicklich war sie auf der höchsten Ebene ihres Systems. Die Firma stellte ihr die allerbeste technische Ausstattung zur Verfügung – eigentlich schade, daß das für eine, die sich so wenig aus modernen Apparaten machte, reine Verschwendung war.
Chloe Afsani ging nicht gleich dran; als sie sich schließlich meldete, wischte sie sich gerade noch einen Rest Frischkäse von der Oberlippe.
»Oh, entschuldige, Chloe, ich habe dich beim Mittagessen gestört.«
»Gebongt, Olga. Es war ein spätes Frühstück – ich werde schon noch ein Weilchen überleben.«
»Bestimmt? Ich hoffe, ich lade dir zu deiner ganzen Arbeit nicht noch zusätzliche Lasten auf.« Chloe war jetzt Ressortleiterin in der Rechercheabteilung des Netzwerks, wo Reihe um Reihe gesichtsloser Datenbrillenträger saßen, bei deren Anblick Olga mehr als nur ein bißchen nervös geworden war, als sie mit ihrer Bitte vorgesprochen hatte. Chloe war Produktionsassistentin für Onkel Jingle gewesen, als sie bei der Firma anfing – »ein kleines Pixelchen«, wie sie selber sagte –, und Olga war in der Zeit, als die erste Ehe der jüngeren Frau in die Brüche ging, ihre Vertraute gewesen. Trotzdem war es Olga sehr schwergefallen, um den Gefallen zu bitten – dadurch bekam eine Freundschaft immer etwas von einem Tauschgeschäft.
»Laß gut sein. Überhaupt, ich habe eine gute Neuigkeit für dich.«
»Wirklich?« Eine plötzliche Berührung ließ Olga auffahren. Dann erkannte sie, daß es nur Mischa war, der ihr auf den Schoß krabbelte.
»Wirklich. Ich schicke dir alles zu, aber das Wesentliche kann ich dir gleich sagen. Es ist ein ziemlich breiter Themenbereich, weil so viele Dinge über Netzbenutzung geschrieben werden, die vage mit Gesundheit zusammenhängen. Ergonomie allein gab schon Tausende von Treffern. Aber je mehr du es eingrenzt, um so leichter wird’s.
Ich blend gleich zur Sache über. Es gibt eine Tonne angeblich netzbedingter Erkrankungen, chronischer Streß, Desorientiertheit, Überanstrengung der Augen, Pseudo-PTSS – ich hab vergessen, was das eigentlich ist –, aber das einzige, was ungefähr auf deine Beschreibung zutrifft, die einzige andere mögliche Ursache außer Arbeitsüberlastung, mit andern Worten, ist etwas, das sich Tandagoresyndrom nennt.«
»Was ist ein Tandagore, Chloe?«
»So heißt der Mann, der es entdeckt hat. Kommt aus Trinidad, wenn ich mich recht entsinne. Jedenfalls ist es umstritten und als eigenes Krankheitsbild noch nicht allgemein anerkannt, aber einige spezielle Forschungsgruppen beschäftigen sich damit. Die meisten Ärzte und Krankenhäuser verwenden den Begriff nicht. Das liegt zum Teil daran, daß es so viele verschiedene Ausprägungen gibt, von Kopfschmerzen
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