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Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Titel: Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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und helfen der Prinzessin Aff-i-Katz, Kinder. Aber zuerst möchte Onkel Jingle, daß ihr mit ihm einen Spaziergang ins Spielzeugland macht!«
    Die Pawlowschen Jubelrufe dröhnten ihr wieder in den Kopfhörern. Das innere Bild, daß sie ihre Schutzbefohlenen über einen verschneiten Güterbahnhof in fensterlose Waggons führte, stieg in Onkel Jingle auf und wurde rasch verbannt. Solche Gedanken waren albern – dies hier war nichts weiter als Werbung, einfach harmlose kapitalistische Gier. Und wenn es nicht harmlos war, dann war es auf jeden Fall ein Teil der Welt, in der sie alle lebten. Es war der größte Teil der Welt, in der sie lebten, oder wenigstens kam ihr das manchmal so vor.
    »Wir singen jetzt das ›Fröhliche Einkaufslied‹«, sagte sie und breitete ihre Arme in einer Geste der Begeisterung aus. »Aber zuerst möchte ich euch mit jemandem bekannt machen. Es ist die Abgedrehte Grete, und sie ist das neueste Mitglied im Verunglückten Verein! Sie ist pädagogisch sehr wertvoll, und sie zeigt euch gleich, warum!«
    Die Kinder – beziehungsweise ihre Online-Avatare – sprangen auf und jubelten. Der Verunglückten Verein war eine beliebte Spielzeugserie, und alle seine schauerlichen Mitglieder, Baruch zu Bruch, Dolly Kopflos und andere, noch unappetitlichere Figuren, waren Verkaufsschlager. Die neuen Werbeeinlagen würden in Kürze anfangen, und Onkel Jingle war von der Aussicht alles andere als angetan. Während die Abgedrehte Grete erklärte, daß, wenn man ihr die Glieder abschraubte, lebensähnliches Blut hervorsprudelte, bis Druck ausgeübt wurde, erreichte Onkel Jingle die Vierstundenmauer und hörte auf, Olga Pirofsky zu sein.
     
    … Oder nein, ich höre auf, Onkel Jingle zu sein, dachte sie. Manchmal weiß man gar nicht mehr, wo die Grenze ist.
    Eine Stimme ertönte in ihren Ohrenstöpseln. »Prima, Frau P., nette Sendung. McDaniel wird dich jetzt ablösen.«
    »Sag Roland Hals- und Beinbruch von mir. Aber er soll es nicht vor dieser Gruppe tun, sonst reißen sie ihm vielleicht Hals und Beine ab, um sein lebensähnliches Blut sprudeln zu sehen.«
    Der Techniker lachte und schaltete ab. Olga stöpselte sich aus. Mischa saß ihr gegenüber an der Wand, den Kopf schief gelegt. Sie wackelte dicht über dem Fußboden mit den Fingern, und er kam an, um sich an der weißen Stelle unterm Kinn kraulen zu lassen.
    Ihre Kopfschmerzen waren in letzter Zeit nicht mehr aufgetreten. Wenigstens dafür sollte sie dankbar sein. Doch als ob sie nur die scharfe Kante eines in ihr Innerstes getriebenen Keils gewesen wären, hatten die geheimnisvollen Schmerzen sie aufgesprengt. Immer öfter stellte sie in diesen letzten Wochen fest, daß die Sendung ihr gegen den Strich ging und daß ihr die grelleren und kommerzielleren Seiten nicht viel anders vorkamen als das Massakrieren von Tieren und Sklaven, womit die alten Römer ihre Spiele aufgepeppt hatten. Aber nicht die Sendung hatte sich verändert, sondern Olga: Die Abmachung, die sie einst mit sich selbst getroffen hatte, daß sie für den Spaß an der Arbeit mit Kindern ihre Unzufriedenheit mit dem Inhalt hinunterschlucken würde, geriet ins Wanken.
    Und obwohl die Kopfschmerzen sie derzeit verschonten, konnte sie sie nicht vergessen, genausowenig wie die Erkenntnis, die ihr an jenem Tag gekommen war. Sie hatte ihrem neuen Arzt davon erzählt, auch den medizinischen Betreuern der Sendung, und alle hatten ihr versichert, daß ihre Online-Kopfschmerzen nichts Ungewöhnliches seien. Sie schienen vergessen zu haben, daß sie sie erst wenige Wochen vorher auf Gehirntumor untersucht hatten. Die übliche Geschichte, erzählten sie ihr, sie solle sich freuen, daß die Sache so leicht zu beheben sei. Sie verbringe zuviel Zeit online. Sie solle ernsthaft daran denken, sich mal eine Zeitlang freizunehmen.
    Natürlich war der Unterton unmißverständlich: Du wirst ohnehin langsam ein bißchen alt für die Arbeit, nicht wahr, Olga? Die Onkel-Jingle-Nummer ist für jemand Junges gedacht, das ganze Hüpfen und Singen und das anstrengende, übertriebene Cartoongehabe. Wäre es nicht besser für deine Gesundheit, wenn du sie jemand anderem überlassen würdest?
    Unter anderen Umständen hätte sie sich gefragt, ob die Mediziner nicht recht hatten. Aber dies waren keine normalen Kopfschmerzen, so wenig wie Baruch zu Bruchs kleine Spezialität ein blauer Fleck am Schienbein war.
    Olga stand auf und schlenderte in die Küche, ohne auf das Prickeln und Stechen nach vier Stunden im

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