Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
flache Bild des Zeltes zu stoßen, sich statt dessen aber auf einmal in einer dreidimensionalen und überraschend geräumigen Version des aufgemalten Tipis befand. Gleich darauf kam Fredericks mit ungläubigem Blick hinterher. Ein Lagerfeuer brannte in der Mitte des kegelförmigen Innenraumes, und der Rauch ringelte sich zu dem Loch an der Spitze empor, wo die Zeltstangen zusammentrafen.
Der Indianer bedeutete ihnen, Platz zu nehmen, und setzte sich dann gegenüber. Eine Frau mit einem genauso knallroten und überzeichneten Gesicht trat aus dem Schatten und stellte sich neben ihn. Sie hatte eine Hirschlederdecke um und eine einzelne Feder im Haar.
»Mein Name Häuptling Starke Marke«, sagte der Indianer. »Dies meine Squaw Sicher-ist-sicher. Und ihr, Bleichgesichter?«
Während die Squaw ihnen Decken brachte, in die sie ihre nassen, kalten virtuellen Körper einwickeln konnten, stellte Orlando sich und Fredericks vor. Starke Marke grunzte zufrieden und ließ sich dann von seiner Frau die Friedenspfeife bringen. Während er sie mit etwas aus einem Tabaksbeutel stopfte – ebenfalls aus dem Nichts gezaubert –, fragte sich Orlando, wie er sie anzünden würde, da der Häuptling, nach seinem hellen Holzhals und dem runden, dunkelroten Kopf zu urteilen, offenbar selbst ein altmodisches Streichholz war. Die groteske Vorstellung, der Häuptling werde womöglich seinen Kopf über den Boden streichen und sich selbst in Brand setzen, erwies sich als falsch, als die Pfeife ohne Mitwirkung eines sichtbaren Anzünders von allein zu qualmen anfing.
Der Rauch war heiß und eklig, doch Orlando tat sein Bestes, ihn drinzubehalten. Während Fredericks sich überwand, es ihm nachzutun, grübelte Orlando abermals über die absonderlichen Fähigkeiten des Otherlandnetzwerks nach. Wie perfekt mußte es sein, um einem die Empfindung, daß man heißen Rauch inhalierte, zu verschaffen? Ob das wohl einfacher war, als den Schwerkrafteffekt zu simulieren, daß man aus einem riesigen Wasserhahn herausgespritzt wurde, oder schwieriger?
Als sie alle an der Pfeife gezogen hatten, gab Starke Marke sie seiner Frau zurück, die sie im Handumdrehen verschwinden ließ. Der Häuptling nickte. »Jetzt wir Freunde. Ich euch helfen. Ihr mir helfen.«
Fredericks wurde von der Schüssel voll Beeren abgelenkt, die Sicher-ist-sicher vor ihn hinstellte, und so übernahm es Orlando, die Unterhaltung weiter zu führen. »Wie können wir dir helfen?«
»Böse Männer rauben Zündi, meinen Sohn. Ich nach ihm jagen. Ihr mit mir kommen, helfen meinen Sohn finden.«
»Gewiß.«
»Böse Männer töten.«
»Äh … gewiß.« Er ignorierte Fredericks’ Blick. Es waren schließlich nur Trickfiguren. Sie sollten ja nicht mithelfen, richtige Menschen zu töten.
»Das gut.« Starke Marke verschränkte die Arme über der Brust und nickte wieder. »Ihr essen. Dann bißchen schlafen. Wenn Mitternacht kommen, wir gehen verfolgen.«
»Mitternacht?« fragte Fredericks mit dem Mund voller Beeren.
»Mitternacht.« Der Cartoonindianer lächelte hart. »Wenn ganze Küche wach.«
> Es war derselbe Albtraum; wie immer war er dagegen machtlos. Das Glas zersplitterte und stob nach außen ins Sonnenlicht wie sprühendes Wasser, jedes wirbelnde Scherblein ein eigener Planet und die schillernde Wolke ein Universum, das sein Gleichgewicht verloren hatte und jetzt in extrem schneller entropischer Expansion auseinanderflog.
Die Schreie hallten und hallten, wie sie es immer taten.
Er wachte schaudernd auf und führte die Hand ans Gesicht, erwartete, Tränen zu fühlen oder wenigstens Angstschweiß, aber seine Züge waren hart und kalt unter seinen Fingern. Er befand sich in seinem Thronsaal, in der von Lampen erleuchteten großen Halle von Abydos-Olim. Er war eingeschlafen, und der alte Albtraum war wiedergekehrt. Hatte er geschrien? Die Augen von tausend knienden Priestern waren auf ihn gerichtet, erschrockene Blicke in erstarrten Gesichtern, wie in der Speisekammer ertappte Mäuse, wenn plötzlich das Licht angeht.
Er rieb sich abermals über seine Gesichtsmaske, halb in dem Glauben, wenn er die Hände fortnahm, werde er etwas anderes sehen – aber was? Seine amerikanische Festung am Ufer des Lake Borgne? Das Innere des Tanks, der seinen verfallenden Körper am Leben hielt? Oder das Haus seiner Kindheit, das Château in Limoux, wo so vieles angefangen hatte?
Bei dem Gedanken daran fiel ihm auf einmal ein Bild ein, die Reproduktion von Davids Gemälde, das an der
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