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Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Titel: Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Innenseite seiner Zimmertür gehangen hatte, Napoleon I., wie er sich selbst vor einem geknickt zuschauenden Papst zum Kaiser krönt. Ein merkwürdiges Bild für ein Kinderzimmer! Aber er war natürlich auch ein merkwürdiges Kind gewesen, und etwas von der vor nichts zurückschreckenden Selbstherrlichkeit des Korsen hatte seine Phantasie gefesselt.
    Es war eigenartig, wieder an das alte Haus zu denken, die schweren Gardinen und dicken Savonnerie-Teppiche seiner Mutter so deutlich zu sehen, wo doch alle diese Dinge – und alle Personen außer ihm – seit so vielen, vielen Jahren nicht mehr existierten.
    Felix Jongleur war der älteste Mensch auf Erden. Dessen war er sicher. Er hatte die beiden Weltkriege des vorigen Jahrhunderts durchgemacht, hatte die Gründung und den Untergang der kommunistischen Staaten des Ostens und den Aufstieg der Stadtstaaten am Pazifik miterlebt. Sein Vermögen, das er in Westafrika mit Bauxit, Nickel und Sisal begründet hatte, war mit den Jahren gewachsen und in Branchen geflossen, von denen sein Vater Jean-Loup, auch er ein homme d’affaires, nicht einmal hätte träumen können. Doch die Fähigkeit seines Vermögens, sich gewissermaßen laufend selbst zu verjüngen, besaß Jongleur nicht, und als das Jahrhundert und das Jahrtausend sich dem Ende zuneigten, setzten die kühneren Nachrichtenagenturen langsam ihre Nachrufe auf, wobei sie besonders die Geheimnisse und unbewiesenen Behauptungen herauszustellen gedachten, die seine lange Laufbahn umdüstert hatten. Aber die Nachrufe erschienen nie. In den Jahrzehnten nach der Jahrtausendwende hatte er den täglichen Umgang mit seinem sterbenden Körper zugunsten eines Daseins im virtuellen Raum aufgegeben. Er hatte seinen physischen Alterungsprozeß unter anderem durch experimentelle kryogenische Techniken verlangsamt, und dank der Weiterentwicklung der Virtualitätstechnik – finanziert zum großen Teil von Forschungsmitteln aus seinem Vermögen und dem Vermögen ähnlich gesinnter Leute, die er um sich versammelt hatte – war er in ein zweites Leben wiedergeboren worden.
    Wahrhaftig wie Osiris, dachte er. Der Herr des westlichen Horizonts, ermordet von seinem Bruder, als dann von seiner Frau wiederauferweckt zum ewigen Leben. Zum Herrn über Leben und Tod.
    Doch selbst den Schlaf der Götter konnten böse Träume stören.
    »Groß ist er, der dem Korn und den grünen Pflanzen Leben verleiht«, sang jemand in seiner Nähe. »O Herr der beiden Länder, höchstanbetungswürdig und von unendlicher Weisheit, ich bitte dich, höre mich an.«
    Er nahm die Hände vom Gesicht – wie lange hatte er so gesessen? – und blickte stirnrunzelnd den Priester an, der sich am Fuß der Stufen auf dem Bauch wand. Manchmal waren selbst ihm die Rituale zuwider, die er sich ausgedacht hatte. »Du darfst sprechen.«
    »O Göttlicher, wir haben eine Mitteilung von unseren Brüdern im Tempel deines dunklen Bruders erhalten, des Verbrannten, des Roten, Kranken.« Der Priester stieß sein Gesicht auf den Boden, als schmerzte es ihn, auch nur von diesem Wesen zu reden. »Sie ersehnen aufs dringendste, von deiner Weisheit zu trinken, o Großes Haus.«
    Seth. Der Andere. Jongleur – nein, er war wieder ganz und gar Osiris, er brauchte den Panzer der Gottheit – richtete sich auf seinem Thron auf. »Warum ward mir das nicht sofort kundgetan?«
    »Sie haben gerade erst mit uns gesprochen, Herr. Sie erwarten deinen göttlichen Hauch.«
    Niemand würde seine Meditationen wegen eines Problems zu unterbrechen wagen, das nur die Simulation betraf – das war undenkbar. Es mußten also die Ingenieure sein.
    Osiris machte eine Geste, und ein Fenster öffnete sich vor ihm im Raum. Einen Sekundenbruchteil lang sah er das besorgte Gesicht eines der Techniker aus dem Tempel des Seth, dann erstarrte das Bild. Die Stimme des Technikers zischte und erstarb und kam dann knisternd wieder, wie ein Funksignal in Zeiten ausbrechender Sonnenflecken.
    »… brauche eine größere … Werte sind … gib uns bitte …« Die Stimme kam nicht wieder.
    Der Gott war beunruhigt. Er mußte sich hinbegeben. Er konnte sich nicht seine übliche Vorbereitungszeit lassen. Aber es war nicht zu ändern. Der Gral – alles – hing von dem Andern ab. Und von der ganzen Bruderschaft war nur ihm allein klar, was für ein heikles Fundament das war.
    Er machte abermals eine Geste. Das Fenster verschwand. Eine Schar Priester, die ein großes, flaches Gebilde trugen, kam im Laufschritt aus dem Schatten am

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