Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
bestimmt noch, und meine Trennung von ihnen bereitet ihnen wahrscheinlich großen Kummer –, aber sie beschützten mich nicht. Das ist schwer zu verzeihen, zumal die Folgen so furchtbar waren.
Meine Mutter Genevieve und mein Vater Marc waren Ingenieure. Beide kamen mit anderen Menschen nicht gut zurecht; beide fühlten sich im Umgang mit sicheren Zahlen und Tabellen wohler. Sie fanden einander wie zwei menschenscheue Waldtiere, und da beide die gleiche Einstellung zum Leben hatten, beschlossen sie, sich gemeinsam vor der Dunkelheit zu verstecken. Aber man kann sich nicht vor der Dunkelheit verstecken – je mehr Lichter, um so mehr Schatten. Ich erinnere mich daran recht gut aus der Zeit, als es noch Licht für mich gab.
Wir gingen kaum jemals aus dem Haus. In meiner Erinnerung sehe ich uns Abend für Abend vor dem Wandbildschirm sitzen und eine der Science-fiction-Serien anschauen, die sie so gern mochten. Immer lineare Programme – interaktive interessierten sie nicht. Sie interagierten mit ihrer Arbeit und miteinander und zum geringen Teil auch mit mir. Das reichte ihnen an Beschäftigung mit der Welt außerhalb ihrer Köpfe vollkommen. Während der Wandbildschirm flackerte, malte ich Malbücher aus oder las oder spielte mit meinem Baukasten, und meine Eltern saßen hinter mir auf der weich gepolsterten Couch, rauchten ›diskret‹, wie sie sagten, Haschisch und schwadronierten über irgendeinen dummen wissenschaftlichen Fehler oder eine unlogische Sequenz in einer ihrer geliebten Serien. Wenn sie die betreffende Folge schon einmal gesehen hatten, diskutierten sie den Fehler trotzdem noch genauso angeregt und ausführlich wie beim erstenmal. Manchmal hatte ich Lust, sie anzuschreien, sie sollten still sein, mit dem blöden Geschwätz aufhören.
Sie arbeiteten natürlich beide zuhause, der Kontakt zu Kollegen lief zum Großteil übers Netz. Das war zweifellos einer der Hauptgründe für ihre Berufswahl gewesen. Wenn es die Schule nicht gegeben hätte, wäre ich vielleicht niemals vor die Haustür gekommen.
Die mangelnde Auseinandersetzung meiner Eltern mit der Außenwelt, anfangs nur ein verträumtes Desinteresse, wurde im Laufe der Jahre bedrückend. Besonders meiner Mutter machten die vielen Stunden, in denen ich ihren Blicken entzogen war, immer mehr Angst, als ob ich ein tollkühner kindlicher Astronaut wäre, der das sichere heimische Raumschiff verlassen hatte, und die ruhigen Straßen einer Toulouser Vorstadt waren für sie ein von Ungeheuern wimmelnder fremder Planet. Sie wollte, daß ich sofort nach der Schule wieder an Bord kam. Wenn es zu dem Zeitpunkt, als ich sieben Jahre alt war, eine Teleportmaschine wie in ihren Science-fiction-Phantasien gegeben hätte, eine Möglichkeit, mich augenblicklich vom Klassenzimmer zurück ins Wohnzimmer zu befördern, hätte sie eine gekauft, egal zu welchem Preis.
In meiner frühen Kindheit, als beide noch arbeiteten, hätten sie sich so ein Gerät vielleicht sogar leisten können, falls es existiert hätte … aber dann ging es mit uns bergab. Die lockere Heiterkeit meines Vaters war eine Maske, die eine ohnmächtige Hilflosigkeit angesichts jeder Komplikation verbarg. Ein unangenehmer Chef, den man ihm vor die Nase gesetzt hatte, vertrieb ihn schließlich aus einem Unternehmen, das er mit gegründet hatte, und er mußte sich notgedrungen mit einer schlechter bezahlten Stelle abfinden. Meine Mutter verlor ihre Stelle ohne eigenes Verschulden – die Firma bekam ihren Vertrag mit der AEE, der Europäischen Weltraumorganisation, nicht verlängert, und ihre ganze Abteilung wurde aufgelöst –, aber es war ihr nahezu unmöglich, aus dem Haus zu gehen und sich eine neue zu suchen. Sie erfand Ausreden dafür, zuhause zu bleiben, und lebte zusehends nur noch im Netz. Meine Eltern hingen an ihrem Haus in der ruhigen Vorstadt, aber es wurde für sie finanziell von Monat zu Monat schwerer zu halten. Die bekifften Diskussionen wurden manchmal angespannt und anklagend. Sie verkauften ihre teure Datenverarbeitungsstation an einen Bekannten und ersetzten sie durch ein billiges, gebrauchtes Modell, irgendein westafrikanisches Fabrikat. Sie hörten auf, sich neue Sachen anzuschaffen. Wir aßen auch billig – meine Mutter kochte Riesentöpfe Suppe und grummelte dabei wie eine Prinzessin, die man zur Küchenmagd degradiert hatte. Noch heute ist der Geruch von kochendem Gemüse für mich gleichbedeutend mit Unglück und stiller Wut.
Ich war acht, als das Angebot kam – alt
Weitere Kostenlose Bücher