Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
all seinen Permutationen und möglichen Lösungen.
Genau wie seine Schöpfer ihre Körper weitgehend vernachlässigten und sich auch in Zeiten minimaler Arbeitsbelastung damit begnügten, diese achtlos zu kleiden und schlecht zu ernähren, angesichts eines unmittelbar bevorstehenden Fertigstellungstermins aber durchaus völlig auf Schlaf und Hygiene verzichten konnten, so war das Nemesis-Programm weitgehend unabhängig von der Matrix, in der es operierte, dem Gralsprojekt (beziehungsweise Otherland, wie die wenigen, die die ganze Wahrheit kannten, es nannten). Anders als die Mehrheit der Bewohner dieses speziellen binären Universums, die aus Schablonen künstlichen Lebens herausentwickelt worden waren, damit sie die Handlungen lebender Wesen nachahmten, war Nemesis so konstruiert, daß es RL-Organismen nur so weit nachahmte, wie es für sein problemloses Fortkommen und seine unauffällige Überprüfungstätigkeit notwendig war, aber sich dabei so wenig für einen Teil der Umwelt hielt, wie ein Raubvogel sich als Teil der Äste begriff, auf denen er sich gelegentlich niederließ.
Außerdem wurde es von einer eingebauten Fixierung auf das Sein statt auf den Schein der Dinge gelenkt, einem ganz anderen Impuls als dem, mit dem die übrigen Leben imitierenden Codeaggregate im Netzwerk ausgestattet worden waren. Nemesis war ein Jäger, und obwohl sein Trieb, in der wirksamsten Art zu jagen, es in letzter Zeit zu bestimmten Veränderungen seiner Vorgehensweise veranlaßt hatte, konnte es sich dennoch dem Verhalten der normalen KL-Objekte innerhalb des Gralsprojekts ebensowenig angleichen, wie es frei in die Luft jenseits des elektronischen Universums hinausspringen konnte.
Nemesis bewohnte seine eigene Realität. Es hatte keinen Körper und daher keine körperlichen Bindungen, auch nicht, wenn die ihm beigegebene Wertewolke sich veränderte und in einer Simulation eine neue wirklichkeitsgetreue Organismusimitation hervorbrachte. Aber die Mimikry geschah nur der äußeren Beobachter wegen – Nemesis selbst war weder in noch aus der jeweiligen Simwelt. Es bewegte sich durch sie hindurch, über sie hinweg. Es verbreitete sich durch den numerischen Raum wie ein zusammenhängender Nebel und war sich nicht mehr bewußt, daß es eine endlose Reihe von Körpern simulierte, die VR-gestützten menschlichen Sinnesorganen realistisch vorkamen, als Regen sich seiner Nässe bewußt sein konnte.
Seit der Codeknopf gedrückt worden war, seit der erste Befehl wie der Blitz über Schloß Frankenstein es zur Lebensähnlichkeit erweckt hatte, hatte Nemesis seine unverrückbaren Ziele in der linearen Art verfolgt, die seine Schöpfer ihm vorgegeben hatten – nach Anomalien suchen, die größte/nächste Anomalie ermitteln, darauf zugehen und auf Vergleichspunkte hin überprüfen, schließlich, zwangsläufig nie zufrieden, weitersuchen. Aber das wilde Informationschaos des Otherlandnetzwerks, das Meer sich unentwegt wandelnder Werte, das Menschen kaum fassen konnten, auch wenn sie es selbst geschaffen hatten, war nicht ganz das, worauf Nemesis programmiert worden war. Ja, das theoretische Modell von Anderland, das Nemesis erhalten hatte, und das Anderland, durch das es sich bewegte, waren so grundverschieden, daß das Programm in den allerersten Momenten durch ein simples und höchst elementares Paradox beinahe paralysiert worden wäre: Wenn nach Anomalien gesucht werden soll und gleichzeitig alles anomal ist, dann ist der Anfang auch schon das Ende.
Aber ohne es zu wissen, hatten die fehlbaren fleischlichen Intelligenzen des J-Teams von Telemorphix ihrem Geschöpf mehr Flexibilität verliehen, als ursprünglich vorgesehen. In dem Gangliengeflecht von Unterprogrammen fand der Trieb, zu jagen und sich fortzubewegen, die nötigen Definitionen, die es ihm erlaubten, Anderland als einen unentdeckten Kontinent zu behandeln – womit er sich von seiner ursprünglichen Ausrichtung abgekoppelt hatte. Nemesis würde das Grundmuster dieser neuen, anomalen Version der Matrix finden und dann nach Anomalien in bezug auf dieses Grundmuster forschen.
Mit dieser Flexibilität jedoch gewann es eine neue und größere Komplexität und die Erkenntnis, daß selbst unter Umgehung des Anfangsproblems die Aufgabe sich so, wie sie gestellt war, nicht bewältigen ließ. Die kleineren Anomalien des Systems, zu deren Untersuchung Nemesis eigentlich entwickelt worden war, waren zu zahlreich: In seiner ursprünglichen Beschaffenheit konnte Nemesis sie nicht alle so
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