Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
treffen, und die Beeinflussung mit Duftstoffen ist bekanntlich besonders wirksam. Wenn Lebensmittelhändler ihre Kunden hungrig machen dürfen, wieso sollten dann nicht die Polizeikräfte der Welt die Bürger zum Gehorsam oder die Regierungen sie zur Dankbareit zwingen können? Wo hört es auf?«
> »Code Delphi. Hier anfangen.
Den Regen habe ich immer geliebt. Wenn ich etwas vermisse, weil ich schon so lange in meinem unterirdischen Domizil lebe, dann ist es das Gefühl von Regen auf meiner Haut.
Blitze auch – die grellen Risse am Himmel, als ob das materielle Universum einen Moment lang aufgeschlitzt worden wäre und das transzendente Licht der Ewigkeit hervorbräche. Wenn ich etwas wegen meiner Behinderung vermisse, dann ist es der Anblick von Gottes strahlendem Gesicht, wie es durch einen Sprung im Universum späht.«
»Ich heiße Martine Desroubins. Ich kann mein Journal nicht mehr auf die normale Weise fortführen, wie ich gleich erklären werde, deshalb subvokalisiere ich diese Diktate in … ins Nichts aller Wahrscheinlichkeit nach … in der Hoffnung, daß es mir eines Tages irgendwie möglich sein möge, sie wieder aufzufinden. Ich habe keine Ahnung, was für ein System dem Otherlandnetzwerk zugrunde liegt oder welchen Umfang sein Speicher hat – es kann sein, daß diese Worte tatsächlich für alle Zeit verloren sind, so als hätte ich sie in den Wind gerufen. Aber diese Resümees, diese privaten Reflexionen sind mir über so viele Jahre zur Gewohnheit geworden, daß ich jetzt nicht damit aufhören mag.
Vielleicht wird jemand anders diese Worte eines Tages aus der Matrix herausziehen, Jahre später, wenn alles, was mich jetzt beschäftigt, was mir solche Angst macht, Geschichte sein wird. Was wirst du davon halten, Mensch der Zukunft? Wird das, was ich sage, dir überhaupt nachvollziehbar sein? Du kennst mich nicht. Ja, obwohl ich dieses Journal schon mein ganzes Erwachsenenleben lang führe, habe ich manchmal immer noch den Eindruck, den Gedanken einer Fremden zu lauschen.
Spreche ich also in die Zukunft, oder murmele ich nur so vor mich hin, wie die Verrückten es von jeher getan haben, allein in einer ungeheuren inneren Finsternis?
Es gibt natürlich keine Antwort.«
»Es gab schon früher Zeiten, in denen ich dieses Journal tagelang, während Krankheiten sogar wochenlang nicht führte, aber noch nie verbargen sich hinter diesem Vorhang des Schweigens derart erstaunliche Veränderungen, wie sie mir widerfahren sind, seit ich zum letztenmal meine Gedanken zu Protokoll gegeben habe. Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Ich weiß es einfach nicht. Alles ist jetzt anders.
In gewisser Weise ist es wunderbar, daß ich überhaupt noch einmal mit meinem Journal anfangen kann. Eine Zeitlang hatte ich die Befürchtung, ich würde nie mehr kohärent denken können, aber je mehr Tage hier vergehen – oder vorgespiegelt werden –, um so leichter fällt es mir, nach und nach die überwältigende Datenflut zu verkraften, die dieses Anderland ausmacht oder dieses Gralsprojekt, wie seine Erfinder sagen. Auch meine Fähigkeit, damit umzugehen, ist etwas besser geworden, aber ich bin immer noch ungeschickt wie ein Kind und von der Welt um mich herum verwirrt, beinahe so hilflos wie damals vor achtundzwanzig Jahren, als ich mein Augenlicht verlor. Das war eine schreckliche Zeit, und ich schwor damals, nie wieder so hilflos zu sein. Aber Gott hat Spaß daran, Ernst zu machen, wie es scheint. Ich kann nicht behaupten, daß mir sein Humor besonders zusagt.
Aber ich bin kein Kind mehr. Damals weinte ich, weinte jede Nacht und bat ihn, mir meine Sehkraft zurückzugeben – mir die Welt zurückzugeben, denn nichts geringeres hatte ich verloren, schien es mir. Er half mir nicht und meine von Selbstvorwürfen gequälten, unfähigen Eltern auch nicht. Es lag nicht in ihrer Macht, mir zu helfen. Ich weiß nicht, ob es in Gottes Macht lag.«
»Es berührt mich sonderbar, nach so langer Zeit an meine Eltern zu denken. Noch sonderbarer ist der Gedanke, daß sie wohl noch am Leben sind und in diesem Moment vielleicht keine hundert Kilometer von meinem physischen Körper entfernt wohnen. Der Abstand zwischen uns war schon so groß, bevor ich in dieses unerklärliche Anderland eintrat, dieses imaginäre Universum, dieses Spielzeug monströser Kinder.
Meine Eltern meinten es sicher gut. Es gibt schlimmere Lebensbilanzen als ihre, aber das ist ein schwacher Trost. Sie liebten mich – sie lieben mich
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