Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Titel: Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
Vom Netzwerk:
er nur das Kunststück in der Zelle vorgeführt hätte, wäre ihre Antwort vielleicht ja gewesen, aber da war noch die ungeklärte Sache mit Sellars’ Juwel.
    »Okay«, sagte sie zu Azador. »Führ uns hin.« Sie hoffte, !Xabbu würde das verstehen.
    Draußen war entweder die Sonne ganz untergegangen, oder der Himmel hatte sich völlig mit undurchdringlichen Gewitterwolken zugezogen, denn im Werk wurde es dunkel. Unter dem Rohr- und Kabelwust an der Decke glommen hinter gesprungenen Schalttafelscheiben trübe, widerlich gelbgrüne Lichter auf, zu denen noch hin und wieder ein elektrischer Funkenregen kam. Stöhnen und schwache Schreie hallten von fern gespenstisch durch die feuchten Gänge, als ob das Werk durch die aufziehende Dunkelheit erst richtig zum Leben erwachte.
    Renie fand es fürchterlich. Auch die Erinnerung daran, daß das Ganze nichts weiter war als bildlich dargestellte Codezeilen nützte wenig, denn sie wußte immer noch nicht, ob sie und !Xabbu einen Online-Tod überleben konnten. Das einzige, was sie mit Sicherheit wußte, war, daß sie sich selten so sehr irgendwo weggewünscht hatte.
     
    Sie befanden sich an einer der wenigen weiträumigen Stellen, wo mehrere Tunnel zusammentrafen, so daß der Eindruck einer aus Kabel gebauten Katakombe entstand, als die Gestalt unmittelbar vor ihnen aus der Dunkelheit trat.
    Renies Herz, das einen Moment lang zu versagen gedroht hatte, fand seinen Rhythmus wieder, als sie sah, daß es lediglich einer der Henrys war, eine stolpernde, zerlumpte Figur mit einem Metallkanister auf den Schultern. Bevor sie in den Schutz eines der Quergänge zurückweichen konnten, sah er auf und erblickte sie. Ihm fielen fast die Augen aus dem bleichen, dünnbärtigen Gesicht. Renie trat vor und legte einen Finger auf die Lippen.
    »Hab keine Angst«, sagte sie. »Wir wollen dir nichts tun.«
    Die Augen des Mannes wurden noch weiter. Er warf seinen Kopf in den Nacken, schluckte so heftig, daß sein Adamsapfel ihm regelrecht den Hals verformte, und riß dann den Mund auf. Tief im Rachen hatte er einen Lautsprecher stecken, und Renie erkannte entsetzt, daß das, was sie für Barthaare gehalten hatte, durch die Wangen gebohrte silberne Drähte waren. Ein ohrenbetäubendes Sirenengeheul erscholl derart schrill aus dem Lautsprecher, daß Renie und die anderen zurückprallten und sich die Ohren zuhielten. Der von der schieren Lautstärke vibrierende Henry stand hilflos da, während der Ton aus seiner Kehle jaulte und gellte.
    Sie konnten nur fortlaufen. Überall ringsherum gingen weitere Alarmschreie los, vielleicht nicht ganz so markerschütternd, aber immer noch furchtbar laut. Eine Emily bog vor ihnen um die Ecke, sah sie angestürzt kommen und stieß das gleiche unmenschliche Kreischen aus, genauso bestialisch wie das erste. Sofort erschienen etwas weiter unten in dem triefenden Korridor zwei der klapprigen Blechfiguren und stimmten mit ihren durchdringenden Alarmhupen in den hysterischen Tumult ein.
    Sie orten uns, lokalisieren uns, erkannte Renie. Emily stolperte; Renie packte das Mädchen und zerrte es mit, hinter Azador her, der gerade in einen Seitengang einbog. Sie schwärmen dorthin, wo die Lautesten sind, bis sie uns umzingelt haben.
    Eine weitere abgerissene menschliche Gestalt vertrat ihnen so plötzlich den Weg, daß Renie nicht erkennen konnte, ob sie Mann oder Frau war. Kaum hatte die schemenhafte Kreatur den geschulterten schweren Sack fallen gelassen und den Mund aufgesperrt, da stieß Azador sie schon mit der Schulter zu Boden. Während sie vorbeirannten, zappelten dürre Arme und Beine hilflos in der Luft und röchelte es aus einer kaputten Sirenenkehle, statt zu heulen.
    Wir laufen bloß blind vor uns hin, wurde ihr klar. Nirgendwohin. Das wird uns den Kopf kosten. » !Xabbu !« schrie sie. »Führ uns zum Fluß!«
    Ihr Freund gab keine Antwort, sondern sprang nur mit hochgestelltem Schwanz voraus und begann auf allen vieren zu laufen. Hinter einer Wegscheide machte er langsamer, bis er sich vergewissert hatte, daß sie noch hinter ihm waren, und beschleunigte dann wieder sein Tempo.
    Die Alarmschreie erhoben sich jetzt von allen Seiten, und obwohl die Werksarbeiter, die ihnen in den Weg traten, nicht versuchten, sie aufzuhalten oder auch nur ihren Stößen auszuweichen, kreischten sie alle lauter, wenn Renie und die anderen vorbeipesten, und bildeten damit so etwas wie einen akustischen Pfeil, der die Richtung ihrer Flucht genau anzeigte. Der Lärm war

Weitere Kostenlose Bücher