Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
Kai erreicht, doch ihre gräßlichen Stimmen wurden zusehends leiser, je weiter der Kahn in die Flußmitte hinausschwamm.
Mit Händen, die noch blutiger waren als sein Gesicht, hielt sich Azador grimmig und schweigend am Steuer fest. Emily brach weinend im Bug zusammen. Mit !Xabbus Hilfe schaffte Renie sie in die Kajüte und auf die schmale Pritsche, die dem Schlepperkapitän als kümmerliche Lagerstatt gedient hatte.
Renie flüsterte dem Mädchen gerade begütigende Worte zu, die beide kaum hören konnten, weil ihnen von dem Lärm noch schmerzhaft die Ohren klangen, da knisterte plötzlich etwas neben ihnen. Was Renie für einen Spiegel gehalten hatte, begann ein körniges Licht abzustrahlen, dann erschien das augenlose Gesicht des Blechmanns auf dem Bildschirm.
»So, so«, sagte er fröhlich, »ihr Auswärtigen seid also alle noch am Leben – und die werdende junge Mutter, die uns so am Herzen liegt? Großartig, ganz großartig. Und dem kleinen Wonnekloß ist auch nichts passiert? Hervorragend! Dann glaube ich, mein Text müßte lauten: ›Gebt die Dorothy heraus!‹« Die Klappe in seinem Mund ging auf und zu, als der Blechmann sein gräßliches, schnarrendes Lachen ausstieß. »Gut, nicht? Aber natürlich hoffe ich, daß ihr sie nicht herausgebt und damit den ganzen Spaß verderbt…«
Renie schnappte sich die Bootsstange und zertrümmerte den Bildschirm, dann sank sie erschöpft und mit den Tränen kämpfend zu Boden.
Kapitel
Die Schleier der Illusion
NETFEED/BIOGRAPHIE:
»Der Mann im Schatten«
(Bild: Zeitlupenaufnahmen von Anford bei einer Ansprache)
Off-Stimme: Rex Anford, manchmal als »Kommandant im Hintergrund« oder »graue Eminenz« bezeichnet, ist der Gegenstand dieser Biographie, die seinen Aufstieg aus kleinstädtischer Bedeutungslosigkeit über seine Position im neuen Wirtschaftssenat als Abgeordneter von ANVAC, General Equipment und anderen diskret operierenden Großkonzernen bis zu seiner schließlichen Wahl zum Präsidenten der Vereinigten Staaten nachzeichnet. Das umstrittene Thema seines Gesundheitszustandes wird behandelt, und Experten werten Archivmaterial aus und geben ihre Diagnose dazu ab, ob er wirklich gesundheitliche Probleme hat, und wenn ja, was für welche …
> Aus dem blendenden goldenen Licht wurde ein Farbenstrudel – schwarz, glutrot und zum Schluß ein tiefes Neonblau mit einem leichten Stich ins Ultraviolette, das wie eine Schwingung in ihn einzudringen schien –, dann war Paul durch, aber immer noch im Griff des Mannes, der ihn entführt hatte. Er machte Anstalten, sich zur Wehr zu setzen, als er erkannte, daß sein Gegner gar nicht kämpfte, sondern ihn nur passiv hielt. Er setzte dem Mann die Hände auf die Brust und stieß ihn weg. Der dünne, dunkelhäutige Mann stolperte nach hinten, ruderte mit den Armen und fing sich wieder.
Der ebene Boden unter den Füßen des Fremden fiel nur wenige Meter hinter ihm in einen steilen, grasbewachsenen Hang ab. Weit unten rauschte ein gewundener Fluß über schäumende Wasserfälle durch die enge Schlucht, bis er den Blicken entschwand. Aber Paul nahm sich nicht die Zeit, den atemberaubenden Anblick zu bewundern: Wasser, Berge, dichter Wald, der Himmel so sonnig, daß die Welt geradezu funkelte. Seine Aufmerksamkeit war ganz auf den Angreifer gerichtet, der ihn aus dem England nach der Invasion der Marsianer entführt hatte – einem Zerrbild seines Zuhauses, aber von allen Welten, in denen er gewesen war, der verlorenen Heimat immer noch am ähnlichsten.
»So«, begann der Fremde lächelnd. »Selbstverständlich muß ich mich bei dir entschul…« Da weiteten sich seine Augen erschrocken, und er trat hastig einen Schritt zurück, denn Paul sprang ihn unvermittelt an.
Paul erwischte den Fremden nicht voll, aber umschlang ihn mit den Armen, und zusammen stürzten sie als ein einziges rollendes Knäuel den Hang hinunter. Die Möglichkeit, daß sie über den Steilabfall hinunter bis ganz zur Talsohle in der Tiefe fielen, ließ Paul völlig kalt. Aus unerfindlichen Gründen gejagt und mißhandelt, hatte er jetzt endlich einen seiner Peiniger zu fassen, und er wollte den Mann in den Abgrund stoßen, auch wenn es ihn selber das Leben kostete.
Es gab keinen Steilabfall. Sie schlugen zwar höchst unsanft am Fuß des Hügels auf, aber zwischen ihnen und der Talsohle lagen noch mehrere andere Hänge. Durch den Aufprall wurden sie getrennt, und einen Moment lang blieben sie liegen, wo sie gelandet waren, und
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