Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
Sonnen‹ keine Fremden durch das Tal gekommen seien und überhaupt noch niemals welche, auf die unsere Beschreibungen zugetroffen hätten. Dann lud er uns ein, zu den Seinen mitzukommen. Wir nahmen natürlich gern an.
Unsere Gastgeber nannten sich, wie wir bald erfuhren, das Volk der mittleren Lüfte, eine eher blumige als exakte Bezeichnung, da alles unter den Wolken und über den tiefsten Gründen der Schluchten anscheinend als zu den mittleren Lüften gehörig angesehen wurde. Auf jeden Fall war diese Gruppe vom Volk der mittleren Lüfte eine der Familien des sogenannten Rotenfelsstammes, wobei sie allerdings auch ein Jagdschwarm war. Wieder fühlte ich mich mit Dingen konfrontiert, die richtig zu verstehen mich Monate oder Jahre kosten würden.
Man setzte uns zu essen und zu trinken vor, und während wir das frische, kalte Wasser tranken und an irgendwelchen Häppchen nibbelten, von denen William meinte, es sei getrockneter Fährmann, hatten wir die Gelegenheit, uns die Leute genauer anzuschauen. Ihre Kleidungsstücke waren aus den Häuten und Fellen vermutlich selbsterlegter Tiere gemacht, aber mit Knöpfen und offenbar als Verzierung gedachten Stickereien, die Leute waren also nicht primitiv.
Als wir gegessen hatten, sprang die ganze Familie von dem Baum neben dem Wasserfall und schwang sich in die Lüfte. Wir flatterten hinterher und bekamen rasch, wenn auch diskret eine Position bei den Kindern und den flugschwächeren älteren Leuten zugewiesen. Das war jedoch kein Grund, sich gekränkt zu fühlen. Schon ein kurzer Blick auf die eleganten, atemberaubenden Bögen der erwachsenen Familienmitglieder zeigte uns, wie bescheiden unsere Flugkünste in Wahrheit waren.
Wir flogen in einer großen Spirale in die Schlucht hinunter und dann neben dem Luftfluß einher stromabwärts. Nach schätzungsweise einer knappen Stunde erreichten wir die rostfarbenen Felsen, von denen der Stamm seinen Namen hatte, und fanden dort ein richtiges Lager vor, den heimischen Sitz des ganzen Rotenfelsstammes, wo die einzelnen Stammesgruppen ihre Schlafhöhlen und die wenigen Habseligkeiten wie etwa große Kochtöpfe hatten, die sie tagsüber nicht mitführen wollten. Ich wunderte mich über die geringe Zahl ihrer Besitztümer, aber dann bekam ich mit, wie ein Mann eine steinerne Speerspitze schleifte, indem er die Schneide im Sturzflug gegen die Felswand hielt, so daß ein langer Steinstaubstreifen darauf zurückblieb. Da begriff ich, daß ihre Umwelt ihnen vieles ganz selbstverständlich machen mußte, wofür unsere Vorfahren lange und hart hatten arbeiten müssen.
Zur Zeit unserer Ankunft hatten sich schon mehrere Dutzend andere Familiengruppen zur Nacht im Lager eingefunden, insgesamt vielleicht vier- bis fünfhundert Angehörige des Volks der mittleren Lüfte. Unsere Familie tauschte mit vielen rituelle Begrüßungen aus und schwatzte dann lange mit den nächsten Nachbarn. Man fühlte sich ein wenig wie auf einer dieser Steininseln im Meer, wo viele Vogelarten zum Nisten zusammenkommen und es auf den ersten Blick chaotisch, in Wirklichkeit aber sehr geordnet zugeht.
Als die Sonne langsam hinter den Graten auf unserer Seite des Tals versank, wurden fast auf jedem Felsvorsprung Feuer angezündet, und die einzelnen Familien versammelten sich, um zu essen und sich zu unterhalten. Unsere Familie ließ sich auf den Stämmen und dickeren Ästen einer Gruppe von Bäumen nieder, die im rechten Winkel zur Steilwand wuchsen, wie ausgestreckte Hände. Dies schien hier am allgemeinen Lagerplatz ihr spezielles Territorium zu sein.
Als alle saßen und auf einer breiten Steinplatte, die man auf die Gabelung eines der größten Bäume gelegt hatte, ein Feuer angezündet worden war, sang eine Frau der Familie ein Lied über ein Kind namens ›Zwei blaue Winde‹, das von zuhause fortlief und eine Wolke wurde, sehr zum Kummer seiner Mutter. Dann führte ein junger Mann einen Tanz auf, den die anderen Mitglieder der Familie sehr lustig fanden, aber der auf mich einen so anmutigen und athletischen Eindruck machte – vor meinem inneren Auge sah ich seine Information wie Quecksilber auf einer hin- und herkippenden Glasscheibe rutschen und springen –, daß mir die Tränen kamen.
Als die letzte Farbe am Abendhimmel verblich und die Sterne vor dem dunklen Hintergrund funkelten, begann unser Gastgeber, der übrigens ›Baut-ein-Feuer-auf-Luft‹ heißt, eine lange Geschichte über einen Mann zu erzählen, der einen der fliegenden Büsche aß – die
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