Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
trotz der zusätzlichen Kleidungsstücke schlotterte Orlando nach kaum einer Minute schon am ganzen Leib.
Die unterste Ablage war genauso gedrängt voll mit Wohnplätzen wie die anderen Teile der Küche, die sie gesehen hatten, aber alle Schachteln, Gläser und Behälter der unterschiedlichsten Art waren leer – eine eisgekühlte Geisterstadt. Während sie zwischen den Schachteln hindurch die Hauptstraße hinuntergingen, ächzte der Wind durch die offene Tür und ließ eine liegengelassene Serviette rascheln. Zur zweiten Ablage gelangten sie, indem sie zuerst auf den höchsten Karton stiegen, dessen inzwischen kamelloses Etikett die Aufschrift »Wüstenschiff – Frische Datteln« trug und dessen behöckerter Bewohner vor Orlandos Augen unten auf dem Schlachtfeld sein tragikomisches Ende gefunden hatte, als ein Pirat ihn mit einem Tritt durch ein Nadelöhr ins Jenseits befördert hatte.
Die zweite Ablage war so unbewohnt wie die erste. Eine Reihe von Eierkartons stand offen und verlassen da, nachdem sich die einst darin beheimateten tapferen Soldaten von oben auf die Belagerer hinabgestürzt hatten, als es einen schrecklichen Moment lang danach aussah, daß die Piraten die Abwehrreihen durchbrechen und den Eisschrank stürmen würden. Mehrere der Seeräuber, die diesem Kamikazeeinsatz zum Opfer gefallen waren, lagen immer noch unten vor dem Eisschrank, einen Schritt vor ihrem Ziel in trocknendem Eidotter einbalsamiert.
Sie erklommen noch zwei Ablagen, ohne ein anderes lebendes Wesen zu Gesicht zu bekommen, ein Weg, der gut über eine Stunde dauerte und unter anderem mehrere Trampolinsprünge auf zellophanbespannten Schüsseln und eine beängstigende Kriechpartie über den losen Griff des Fleisch- und Käsefaches erforderte. Auf der obersten Ablage, fast ganz hinten, wurde Fledderjans Mühe schließlich belohnt.
Auf einem blauen Porzellanteller lag eine Papiertüte, aus der allerlei Süßigkeiten für Kinder quollen – Fruchtgummis wie bunte Edelsteine, Pfefferminzstangen, eingewickelte Sahnebonbons … und ein Haufen schimmernder Goldmünzen. Fledderjan hinkte darauf zu, und sein Gesicht glänzte vor Habgier und Triumph.
»Es ist bloß Schokolade!« flüsterte Fredericks. »Bloß so falsche Goldmünzen für Kinder.«
»Der Schatz!« frohlockte der Seeräuberkapitän. »Ach, süßer Reichtum, geliebter Schatz, der du jetzt mein bist! Ich werde mir zwei Schiffe kaufen – drei! Ich werde sie mit den bösesten und schrecklichsten Haudegen unter dem Spülbecken und hinter den Abfalleimern bemannen, und wir werden nach Herzenslust plündern. Ich werde der Herr über die ganze Küche sein!« Mit Haken und Pistole griff er sich eine der Münzen, die im Verhältnis zu ihm so groß war wie ein Schachtdeckel, und nachdem er Orlando und Fredericks mit drohendem Pistolengefuchtel klargemacht hatte, daß sie sich ja nicht von der Stelle rühren sollten, wankte er damit an den Rand der Ablage, wo er ihr Glitzern im Schein der Glühbirne bewundern konnte.
»Ich wußte immer, daß mich ein goldenes Schicksal erwartet«, jubelte er. Er schwenkte die Münze durch die Luft, dann drückte er sie wieder fest an die Brust, als könnte sie Flügel bekommen und davonfliegen. »Ich wußte es! Hat nicht eine Wahrsagerin meiner Mutter prophezeit, daß ich als reichster und höchster Mann der ganzen Küche sterben würde?«
Er versank in ein verzücktes Schweigen, doch da durchbrach ein einzelnes Geräusch die Stille, ein kurzes Tock, das sich anhörte, wie wenn jemand mit dem Knöchel auf eine Tischplatte klopft. Fledderjan guckte sich nach dem Ursprung des Geräusches um, bevor sein Blick nach unten wanderte. Ein gefiederter Schaft war aus der Mitte der Goldmünze gewachsen. Das Gesicht des Seeräuberkapitäns hatte einen Ausdruck milder Überraschung, als er sich zu Orlando und Fredericks zurückdrehte. Er versuchte die Münze abermals hochzuheben, um sie zu untersuchen, aber sie ließ sich nicht von der Stelle bewegen. Er starrte das Ende des Pfeils an, mit dem die Münze an seiner Brust festgeheftet war, und langsam dämmerte ihm die Erkenntnis. Er schwankte, tat einen Schritt nach hinten und kippte von der Ablage; bevor er weg war, blitzte die Goldfolie ein letztes Mal kurz auf.
Während Orlando und Fredericks noch mit verdutztem Blick dastanden, packten zwei Hände die Kante der Ablage an der Stelle, wo der Piratenkapitän gestanden hatte, dann zog sich eine dunkle Gestalt hoch und kam auf sie zu.
»Böser Mann jetzt tot«,
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