Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
zu können, weshalb die Häuser trotz der ungewöhnlich großen Grundstücksflächen, die sie zu begehrten Immobilien hätten machen müssen, dennoch einen Anflug von Schäbigkeit hatten, von langsamem, aber unaufhaltsamem Verfall.
Er hielt vor dem Haus Nummer 74. Was er davon über die hohe Hecke erkennen konnte, wirkte ein wenig sauberer als die Nachbarhäuser oder zumindest vor kürzerer Zeit gestrichen. Er meldete sich am Gartentor, und obwohl niemand antwortete, ertönte der Summton zum Eintreten. Beeindruckt von der Größe des Anwesens schritt er den langen Pfad hinunter. Olga Pirofsky war vielleicht nur einer von zwölf Onkel Jingles, aber die Sendung war schließlich unglaublich populär, und er nahm an, daß selbst die gesichtslosen Darsteller gut bezahlt wurden. Der Garten war weitgehend sich selbst überlassen worden, aber nicht vollkommen verwildert. Hier hinter der dicken Hecke hatte er das Flair einer früheren Epoche, einer Zeit viktorianischer Vergnügungen und phantasievoller Kinderspiele. Obwohl das Haus selbst im Verhältnis zum Grundstück klein war, hatte es drei Stockwerke und Fenster, die in allen möglichen Winkeln zueinander standen.
Während er darüber nachsann, wie es sich wohl anfühlen mochte, an einem dieser Fenster zu sitzen und auf den eigenen Garten hinauszuschauen, einen Garten, in dem man sich richtig verirren konnte, fragte sich Ramsey, was für eine Wohnfläche er sich mit der unverschämten Hypothek auf seine Zweizimmerwohnung in einer Stadt wie dieser wohl leisten könnte.
Es dauerte eine Weile, bis jemand an die Tür kam, was ihm reichlich Gelegenheit gab zur Betrachtung des dürren Weihnachtskranzes, der wahrscheinlich nicht erst Monate, sondern schon Jahre lang ohne Rücksicht auf die Jahreszeit dort hing, und der Gummistiefel, die neben der Fußmatte abgestellt waren.
Die Tür ging auf, aber nur einen Spalt. Ein kleines, helles Auge spähte über die Kette hinweg. »Herr Ramsey?«
Er gab sich Mühe, so wenig wie möglich wie ein Mörder auszusehen. »Der bin ich, Frau Pirofsky.«
Sie zauderte einen Moment, als zöge sie immer noch die Möglichkeit einer Täuschung in Erwägung. Mein Gott, ging es ihm durch den Kopf, als der Moment sich hinzog. Genau das tut sie – sie fürchtet sich dermaßen. Seine kurz aufgeflackerte Verärgerung erstarb. »Ich kann dir meinen Führerschein zeigen, wenn du willst. Erkennst du nicht meine Stimme von unsern Fongesprächen?«
Die Tür ging zu, und er dachte schon, er hätte einen Fehler gemacht, doch dann klapperte die Kette, und die Tür ging wieder auf, diesmal weiter.
»Komm rein«, sagte sie mit einem schwachen, die Worte nur anhauchenden Akzent. »Wie furchtbar von mir, dich vor der Tür stehenzulassen wie einen Zeugen Jehovas oder sowas.«
Olga Pirofsky war jünger, als er nach ihrer Zögerlichkeit am Fon vermutet hatte, eine fitte, robuste Frau Ende fünfzig oder Anfang sechzig, deren dichte, ursprünglich braune Haare kurzgeschnitten und zum großen Teil ergraut waren. Am überraschendsten war das frische Selbstvertrauen ihres Blicks, sehr unerwartet bei einer Frau, die ihn mit vorgelegter Kette beäugt hatte, um zu sehen, ob er vielleicht eine Art Spionagefilmattentäter war.
»Schon gut«, erwiderte er. »Ich bin einfach sehr, sehr froh, daß du dich für ein Treffen mit mir entschieden hast. Und falls dabei etwas Nützliches herauskommt, hast du einigen sehr netten Leuten einen Riesengefallen getan.«
Sie winkte beinahe geringschätzig ab. »Ich kann dir gar nicht sagen, was ich mir wegen meines Verhaltens für Vorwürfe gemacht habe. Aber ich weiß nicht, was ich sonst tun soll.« Zum erstenmal, seit er eingetreten war, knickte ihre Selbstsicherheit ein wenig ein. Sie blickte hin und her, als müßte sie sich vergewissern, daß sie wirklich auf heimischem Gelände war, dann lächelte sie wieder. »Das alles hat mich ziemlich durcheinandergebracht.« Sie trat rückwärts auf die Treppe zu und winkte ihm, ihr zu folgen. »Gehen wir nach oben – ich nutze den unteren Teil des Hauses kaum.«
»Es ist ein schönes Haus. Besonders beeindruckt hat mich der Garten.«
»Er ist völlig heruntergekommen. Früher hatte ich eine Mieterin, die hier im Erdgeschoß wohnte, und sie arbeitete gern im Freien, aber sie wurde von ihrer Firma versetzt. Das liegt schon Jahre zurück.« Sie stieg bereits die Treppe hinauf, und Ramsey folgte ihr. »Ich habe einen Gärtner, der einmal im Monat kommt. Manchmal denke ich, ich sollte die
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