Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
etwas getan hätte, um sie zu erschrecken oder zu schockieren. »Entschuldige, es geht mich natürlich nichts an.«
Sie gab ihm mit einer Geste zu verstehen, daß das keine Rolle spiele, aber ihre Wangen hatten sich gerötet. Sie starrte eine gute Viertelminute den Hund an, ohne etwas zu sagen. Auch Ramsey schwieg und wagte vor Schuldgefühl und Fauxpas-Angst nicht, sich zu rühren.
»Kann ich dir etwas erzählen?« fragte sie schließlich. »Du kennst mich nicht. Du kannst gehen, wenn du willst. Aber manchmal ist es gut, mit jemandem offen zu reden.«
Er nickte und spürte dabei, wie alles, seine Kontrolle über die Situation, seinen Terminkalender, seine Gefühle, weggesaugt wurde wie Sand von der Ebbe. »Natürlich.«
»Als ich jung war, zog ich mit einem Zirkus durchs Land. Meine Eltern waren beide Artisten, und unser Zirkus, Le Cirque Royal bereiste ganz Europa und sogar Asien. Du weißt doch, was ein Zirkus ist, nicht wahr?«
»Ja, Ma’am. Das heißt, ich habe nie einen gesehen, aber ich weiß, was das ist. Es sind, denke ich mal, nicht mehr viele Zirkusse übrig. Jedenfalls nicht in Amerika.«
»Nein«, sagte sie. »Nicht viele.« Sie seufzte. »Ich weiß nicht, warum ich dir das erzähle, aber ich habe das Gefühl, du solltest es hören. Ich trat als Clown und als Kunstreiterin auf, schon als kleines Mädchen. Vieles von dem, was ich bei Onkel Jingle mache, sind Sachen, die ich damals gelernt habe, von den anderen Clowns und Zirkusdarstellern. Vielleicht bin ich die letzte, die diese Sachen gelernt hat. Auf jeden Fall war es ein gutes Leben, obwohl wir nicht viel Geld hatten. Wir waren alle zusammen, wir reisten viel herum, sahen viele Dinge. Und als sich uns noch ein junger Mann anschloß, ein Gedankenleser … sagt dir das Wort etwas? Leute, die Gedanken lesen oder so tun, sind sehr beliebte Programmfüller, wie Wahrsager auch. Ich glaube, man sieht hin und wieder noch welche im Netz. Als dieser schöne junge Mann sich uns also anschloß, hatte ich alles, was ich wollte.
Er hieß Aleksander Tschotilo.« Sie hielt inne und lächelte unsicher, aber durchaus nicht ohne innere Freude. »Ich habe diesen Namen schon lange nicht mehr ausgesprochen. Ich dachte, es würde weher tun. Ich werde dich nicht mit einer langen Geschichte langweilen. Du bist ein junger Mann. Du kennst die Liebe.«
»Leider nicht mehr so jung«, sagte er leise, aber bat sie mit einem Nicken fortzufahren.
»Wir wollten heiraten – meine Eltern mochten ihn gern, und er war einer von uns, war mit dem fahrenden Leben, dem Zirkusleben großgeworden. Als ich meinem Vater sagte, daß ich ein Kind erwarte, setzte er sehr schnell einen Termin für die Hochzeit fest. Ich war so glücklich.« Sie schloß einen Moment die Augen, langsam, als schliefe sie ein, dann schlug sie sie wieder auf und holte tief Atem. »Doch es kam alles anders. Im fünften Monat setzten die Wehen ein – sehr, sehr stark. Wir waren in Österreich, am Rand von Wien. Ich wurde im Hubschrauber ins Krankenhaus geflogen, aber das Kind, ein Junge, kam tot zur Welt. Ich habe ihn nie gesehen.« Eine Pause, die Zähne zusammengebissen. »Dann, ich lag noch im Krankenhaus, wurde mein Aleksander in der Thaliastraße von einem Auto angefahren und war sofort tot. Er war auf dem Weg zu mir gewesen. Er hatte Blumen dabeigehabt. Meine Eltern mußten mir die Nachricht überbringen. Sie weinten beide.« Sie betupfte ihrerseits mit dem Ärmel ihre Augen, die an den Rändern leicht gerötet, aber trocken waren. »Damals wurde ich wahnsinnig. Es gibt kein anderes Wort dafür. Ich kam zu der Überzeugung, Aleksander sei entführt worden – auch noch nachdem ich ihn im Sarg gesehen hatte, am Tag der Beerdigung, als man mich aus der Kirche hinaustragen mußte. Ich war mir auch sicher, daß mein Kind noch lebte, daß eine schreckliche Verwechslung geschehen war. Ich lag jede Nacht im Krankenhausbett und stellte mir vor, daß Aleksander und unser Sohn mich suchten, daß sie draußen durch die Gänge irrten und meinen Namen riefen. Dann schrie ich nach ihnen, bis die Schwestern mich ruhigstellten.« Sie lächelte, wie um ihre Dummheit zu unterstreichen; Ramsey fand den Ausdruck sehr verunsichernd. »Ich war vollkommen wahnsinnig.
Ich verbrachte drei Jahre in einem Sanatorium – das Wort hört man heutzutage bestimmt nicht mehr –, und zwar in Südfrankreich, wo der Cirque Royal sein Winterquartier hatte. Ich sprach nicht, schlief kaum. Ich habe heute kaum noch Erinnerungen an die Zeit,
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